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Bündnerwald Juni 2024

Erfolgsfaktoren im Spannungsfeld Wald und Wildtiere im Toggenburg

Im Toggenburg verjüngt sich seit einigen Jahren die Tanne an vielen Standorten ohne grossen Einfluss der Wildhuftiere. Diese positive Entwicklung hat verschiedene Erfolgsfaktoren. Christof Gantner

Die Waldregion 5 Toggenburg ist eine von fünf Waldregionen und liegt mitten im Kanton St.Gallen. Sie besteht aus zwei Tälern, die sich von Südosten nach Nordwesten erstrecken. Der höchste Punkt ist der Säntis mit 2502 m ü. M. und der tiefste befindet sich auf 550 m ü. M. Die Waldregion dehnt sich von der voralpinen Hügelzone über die Voralpen bis in die Nordalpen. Das Toggenburg ist sehr niederschlagsreich. Der mittlere Jahresniederschlag der Messstation in Ebnat-Kappel liegt bei rund 1800 mm. Die hohen Niederschlagsmengen sowie die tonhaltigen Böden sind die Voraussetzung für wüchsige Wälder. Das eher kühle Klima begünstigt Tanne und Buche. Im Toggenburg dominieren wüchsige und feuchte Buchen-, Tannen-Buchen- und Tannen-Fichtenwälder. Die wichtigsten Baumarten sind daher in abnehmender Reihenfolge Fichte, Buche, Tanne und Bergahorn. Die Wälder werden schon seit Jahrzehnten stufig bewirtschaftet.

Abb. 1: Reichverzahnte Landschaft im Toggenburg. (Bild: Kantonsforstamt St. Gallen)

Die Waldregion 5 umfasst eine Waldfläche von 14 500 ha Wald mit einem Privatwaldanteil von 70 Prozent. Der Wald verteilt sich auf rund 3700 Waldeigentümerinnen und Waldeigentümer, die mehrheitlich landwirtschaftlich geprägt sind. Die starke Verzahnung von Wald und Offenland führt zu über 3800 km Waldrand. Die Nutzung liegt bei rund 90 000 fm pro Jahr. Zwei Drittel der Wälder schützen vor Naturgefahren. Es bestehen sechs Wald­reservate, zwei davon zur Förderung des Auerhuhns. Das Toggenburg ist eine Tourismusregion mit dem Schwerpunkt in der Gemeinde Wildhaus-Alt St. Johann.

Abb. 2: Rehgeiss im Wald. (Bild: Kantonsforstamt St. Gallen)

Jagd und Wildtiere im Toggenburg

Der Kanton St. Gallen hat die Revierjagd. In der Waldregion 5 Toggenburg befinden sich 30 Jagdreviere. Diese gehören entweder dem Rotwildhegegebiet 1 oder 3 an. Die für den Wald relevanten Wildhuftiere Reh, Rothirsch und Gams kommen im gesamten Toggenburg vor. Das Reh ist flächig anzutreffen. Der Abschuss hat sich in den vergangenen Jahren bei etwas über 1000 Stück eingependelt. 1998 wurden über 1400 Rehe erlegt. Der schneereiche Winter 1999 führte grossflächig zu hoher Sterblichkeit, was zu einem Rückgang des Abschusses gegenüber 1998 von knapp 30 Prozent führte. Danach stieg der Abschuss nicht mehr auf die Werte von 1998 an. Dies hat mit der zunehmenden Luchspopulation zu tun. Der Abschuss widerspiegelt die grobe Entwicklung des Bestandes.

Der Rothirsch hat sich seit 2008 kontinuierlich im Toggenburg ausgebreitet. Er kommt vor allem südlich von Ebnat-Kappel sowie im Gebiet Hörnli-­Tössstock in grösseren Populationen vor. In den übrigen Gebieten sind die Bestände deutlich tiefer. Die Zählungen im Rothirschhegegebiet 1 zeigen für das Toggenburg einen stetigen Anstieg des Bestandes. Auch der Abschuss nahm kontinuierlich zu und hat sich seit 2006 mehr als verdoppelt. Dieser lag 2023 bei 166 Rothirschen.

Die Gämse kommt im Alpstein und in den Churfirsten oberhalb der Waldgrenze vor. Die alpinen Gamsbestände haben für den Wald keine nennenswerte Bedeutung. In vielen Bachtobeln und mit Fels durchzogenen Wäldern finden sich über die gesamte Waldregion verteilt Gamsrudel. Diese sind, nachdem sie mit der Ausbreitung des Luchses stark zurückgegangen sind, in den letzten Jahren kontinuierlich angewachsen. Rund die Hälfte der Gämsen werden im Toggenburg im Waldgebiet erlegt. Da die Gamsbestände im ganzen Kanton, insbesondere im alpinen Raum, stark zurückgegangen sind, wurde die Bejagung aller Gämse reduziert. Davon hat die Waldgams profitiert. Auch die Wintermortalität ist sehr gering und das Äsungsangebot ausserhalb des Waldes gut.

Abb. 3: Tanne auch ohne Clip aus dem Äser gewachsen. (Bild: Waldregion 5 Toggenburg)

Entwicklung des Verbisses

Aus alten Akten geht hervor, dass vor 2000 in vielen Gebieten der Wildverbiss bei der Tanne so gross war, dass sich diese kaum verjüngen konnte. Zwischen 2000 und 2014 führte das Kantonsforstamt St.Gallen auf ausgewählten Indikatorflächen Verjüngungskontrollen nach Methode Daniel Rüegg durch. Die Flächen wurden dort angelegt, wo von einer Gefährdung der Mischbaumarten auszugehen war. Die mittlere Verbissintensität über alle Baumarten hat sich von 33 auf 15 Prozent und bei der Tanne von 37 auf 20 Prozent reduziert. Auch die gutachterliche Beurteilung des Verbisses zeigte 2000 fast für das gesamte Toggenburg eine Gefährdung von Mischbaumarten und Tanne. In einigen Gebieten war der Verbiss so stark, dass sogar die Gefährdung aller Baumarten befürchtet wurde. Die gutachterliche Beurteilung fand 2008 das letzte Mal statt. Über die acht Jahre hat sich die Situation deutlich verbessert. So nahmen die Flächen ohne Gefährdung von Baumarten um 32 Prozent zu und diejenigen mit Gefährdung von Mischbaumarten und Tanne um 30 Prozent ab. Die Flächen mit einer Gefährdung aller Baumarten sind sogar ganz verschwunden. 2018 führte das Kantonsforstamt als Pilot die Verjüngungskontrolle zusammen mit der WSL in den Wildräumen 2 und 8 durch. Ein Teil des Toggenburgs liegt im Wildraum 2. Auf einem fixen Stichprobenraster wurden pro Baumart und Höhenklasse die zwei am nächsten zum Stichprobenpunkt liegenden Bäumchen erfasst. Bei der Tanne waren 14 Prozent hauptsächlich im Winter verbissen. Beim Bergahorn lag der Verbiss bei 45 Prozent. Dabei wurde der grösste Teil der Bäume im Sommer verbissen. Es konnte aufgezeigt werden, dass für Fichte, Tanne und Buche nicht mit einem relevanten Einfluss durch Wildhuftiere zu rechnen ist. Beim Bergahorn hingegen könnte der Verbisseinfluss zu einer längerfristigen Abnahme gegenüber der Buche führen. Die Methodik und die detaillierten Resultate wurden im «WALD und HOLZ» 11/2019 unter dem Titel «Verbisseinfluss in der Tannenwaldstufe» publiziert. Die Resultate bestätigen den langfristigen Trend, dass sich die Verjüngungssituation in den Toggenburger Wäldern deutlich verbessert hat.

Abb. 4: Luchs nutzt den Riss über mehrere Tage. (Bild: Kantonsforstamt St. Gallen)

Luchs als Erfolgsfaktor

Für diese positive Entwicklung gibt es mehrere Erfolgsfaktoren. Der schneereiche Winter 1999 führte zu einer hohen Mortalität besonders beim Reh. Gleichzeitig startete 2001 das Luchsumsiedlungsprojekt Luno der drei Kantone St.Gallen, Zürich und Thurgau. Das Toggenburg lag mitten im Projektperimeter. Bis 2008 wurden zwölf Luchse ausgesiedelt. Im Winter 2021/2022 konnte Kora mittels Fotofallenmonitoring 20 selbstständige Luchse nachweisen. Gemäss Schätzung gehen die Forscher von 22 Tieren aus. Dies entspricht einer Dichte von 2,79 Luchse pro 100 km² geeignetem Habitat (Quelle: Kora Bericht Nr. 109, 2022[1]). Der Luchs führte dazu, dass der Rehbestand nach dem Winter 1999 nicht mehr so hoch anstieg. Auch der Waldgamsbestand ging als Folge der Luchspräsenz deutlich zurück.

Im Forstrevier Stockberg erfassen die Förster seit 1989 auf verschiedenen Probeflächen den Verbiss. Bei der Tanne waren bis 2011 je nach Jagdrevier im Mittel 26 bis 38 Prozent der Jungpflanzen verbissen. Mit der Zunahme der Luchspräsenz im Gebiet nahm 2012 der Verbissdruck deutlich ab und pendelte sich zwischen 3 bis 20 Prozent ein. Der Luchs hat nicht nur einen Einfluss auf die Dichte seiner Beutetiere, sondern auch auf deren Verteilung. Die Rehe haben ihr Verhalten der Präsenz des Prädators angepasst. So lagern sie in der Nacht nicht mehr am Waldrand, sondern mitten in der Wiese oder sogar in unmittelbarer Nähe von einzeln stehenden Wohnhäusern. Für die Rehe ist die Gefahr, die vom Luchs ausgeht, deutlich grösser als diejenige durch den Menschen.

 

Weitere Erfolgsfaktoren

Neben der Umsiedlung von Luchsen haben weitere Faktoren zum Erfolg beigetragen. Die Stürme Vivian 1990 und Lothar 1999 haben grossflächige Verjüngungsflächen geschaffen, auf denen ein vielfältiges Äsungsangebot entstand. Die Einführung des neuen Beitragswesens mit dem NFA im Jahr 2008 ermöglichte es, die Schutzwaldpflege im Privatwald zu forcieren und so grossflächig die Waldverjüngung einzuleiten. Seit 2001 wird mit der Schaffung von stufigen Waldrändern das Äsungs- und Deckungsangebot im Wald kontinuierlich erhöht. Auch verschiedene Eingriffe zugunsten der Waldbiodiversität wirken sich positiv aus. All diese Massnahmen haben die Lebensraumkapazität erhöht. Da gleichzeitig der Bestand von Reh und Gams zurückging, konnte ein positiver Effekt auf die Waldverjüngung erreicht werden.

Abb. 5: Lothar-Fläche mit vielfältiger Verjüngung. (Bild: Waldregion 5 Toggenburg)

Die Jagd bei den Rothirschen konzentrierte sich schwergewichtig auf den Abschuss von weiblichen Tieren und Kälbern. In den letzten vier Jahren waren nur ein Fünftel des Abschusses Stiere. Von Waldseite wurde die Jagd bei der Einrichtung von jagdlichen Einrichtungen und Offenhalten von Bejagungsschneisen unterstützt. So konnte auch die Schwerpunktbejagung in Problemflächen gefördert werden. Die Jagdverwaltung wie auch Jagdvereine boten Weiterbildungen zum Thema effiziente Rotwildbejagung an. Die gemeinsame Broschüre «Erfolgreich Rotwild bejagen» [2] enthält Tipps für die Jagdpraxis.

Die Probleme der Wald-Wild-Thematik können die betroffenen Akteure nur gemeinsam lösen. Daher ist die Zusammenarbeit zwischen Forstdienst, Waldeigentümern, Jagdverwaltung und Jagdgesellschaft wichtig. Problemflächen werden zusammen vor Ort angeschaut und gemeinsam Massnahmen festgelegt. Die Umsetzung der Massnahmen und deren Wirkung wird nach einigen Jahren überprüft. Das Kantonsforstamt und die Abteilung Jagd führen regelmässig Begehungen durch. Die Förster nehmen mindestens einmal im Jahr Kontakt zu den Jagdgesellschaften auf, um im Austausch zu bleiben. Auch der Dialog zwischen der Wildhut und der Waldregion findet laufend statt. Dies fördert das gegenseitige Verständnis. Für die Zusammenarbeit ist es wichtig, dass die fachlichen Grundlagen, im Bewusstsein der Ungenauigkeiten, gegenseitig akzeptiert werden. Gleichzeitig werden diese Grundlagen laufend verbessert und weiterentwickelt.

Abb. 6: Holzerei schafft Äsung und Lebensraum. (Bild: Waldregion 5 Toggenburg)

Die Förster führen pro Jagdrevier alle vier Jahre eine Lebensraumbeurteilung durch. Die gutachterliche Einschätzung des Wildeinflusses auf die Waldverjüngung wird mit den Wildhütern abgeglichen. Zusammen mit den Jagdgesellschaften werden Problemgebiete bei der Waldverjüngung, für die Jagd und die menschliche Störung diskutiert und festgehalten. Für jeden Problempunkt vereinbaren die beiden Partner Massnahmen, deren Umsetzung im jeweiligen Einflussbereich liegt.

 

Dranbleiben für die Zukunft

Die Wald-Wild-Situation ist dynamisch. Daher ist es wichtig, Veränderungen frühzeitig wahrzunehmen, um rechtzeitig reagieren zu können. Eine der grossen Herausforderungen ist der Klimawandel. Bis anhin seltene Baumarten, die wie die Eiche stark verbissanfällig sind, müssen sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten auch im Toggenburg verjüngen können. Wie gross der Wildeinfluss in Zukunft auf die Verjüngung sein wird, ist schwierig abzuschätzen. Der vergangene Winter hat gezeigt, dass die Wintersterblichkeit bei Reh, Rothirsch und auch Waldgams deutlich an Bedeutung verliert und schwache Tiere den Winter überstehen. Die Verjüngung einer Waldgeneration braucht zehn bis zwanzig Jahre, darum ist es für den Forstdienst wichtig dranzubleiben, damit die Erfolgsfaktoren weiterhin wirken und der konstruktive Dialog erhalten bleibt.

Abb. 7: Gemeinsame Begehung von Kantonsforstamt und Abteilung Jagd. (Bild: Kantonsforstamt St. Gallen)

Die Luchse sind der wichtigste Teil der Erfolgsgeschichte. Daher ist der Bestand vor jagdlicher Regulation zu schützen und Inzucht vorzubeugen. Da Luchse im Gegensatz zum Wolf schlechte Besiedler sind, werden Bestandeslücken langsamer geschlossen und die Vernetzung mit anderen Populationen ist klein. Dies birgt auch das Risiko einer genetischen Verarmung (siehe Kasten). Da die Population Nordostschweiz aus drei verschiedenen Populationen stammt, ist die genetische Vielfalt noch recht hoch.

Abb. 8: Beurteilung der Tannenverjüngung durch den Forstdienst. (Bild: Waldregion 5 Toggenburg)

Fazit

Im Toggenburg hat der Luchs in Kombination mit Naturereignissen (Winter 1999, Vivian, Lothar) die angespannte Wald-Wild-Situation verbessert, sodass die Lebensraumaufwertungen ihre Wirkung entfalten können. Die Zusammenarbeit der Akteure fördert das Verständnis und bringt tragbare Lösungen. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass im Toggenburg der Einfluss von Reh und Gams auf die Waldverjüngung insbesondere bei der Tanne deutlich bedeutender ist als derjenige des Rothirsches. Wie sich die Bestandeszunahme des Rothirsches auf die Waldverjüngung auswirken wird, ist noch unklar. Offen ist auch, wann und wie der Wolf auf die Hirschpopulation wirkt.

Forstdienst und Waldeigentümer sind gewillt, zusammen mit Jagdverwaltung und Jägern die Toggenburger Erfolgsgeschichte weiterzuschreiben.

Christof Gantner, Forstingenieur ETH, ist Regionalförster in der Waldregion 5 Toggenburg und aktiver Jäger in einem St.Galler Jagdrevier. Er leitet seit dem 1. Januar 2024 die Arbeitsgruppe Wald und Wildtiere des Schweizerischen Forstvereins.

Genetische Verarmung beim Luchs

Der Bericht Nr. 99/2021 der Stiftung Kora «50 Jahre Luchs in der Schweiz»[3] zeigt auf, dass mittels der Gründung der Schweizer Luchspopulation vor 50 Jahren ein genetischer Flaschenhals entstand. Die danach einsetzende Inzucht, verstärkt durch Populationsschwankungen, führt zu einer zunehmend genetischen Verarmung der heutigen Populationen. Das Risiko, dass die Schweizer Luchse zum zweiten Mal aussterben, steigt somit stetig.

Was benötigen die Schweizer Luchs­populationen?

Die Bonn Lynx Expert Group (2021) empfiehlt unter anderem:

– Verbesserung der genetischen Diversität durch Aufstockung (Aussetzung) genetisch passender Tiere

– Verbesserung der Vernetzung der verschiedenen Teilpopulationen

Heute scheint eine Aussetzung von genetisch passenden Tieren für eine Rettung der Schweizer Luchsbestände unausweichlich. Die Luchse brauchen einen Partner, der es versteht, nachhaltig und langfristig zu denken. Dazu sind verantwortungsvolle Forstfachfrauen und -männer mit ihrem weitsichtigen Denken prädestiniert.

 

Ökologischer Jagdverein Schweiz/oejv.ch

Redaktion der Bäume nach Endtriebverbiss

Bäumchen reagieren unterschiedlich nach Verbiss des Endtriebes. Dies hängt von der Stärke des Verbisses, von der Baumart und ihrer Provenienz, aber insbesondere auch von den standörtlichen Bedingungen und dem lokalen Klima ab. Stress, z.B. infolge von Beschattung und/oder Trockenheit, führt zu einer kleineren bzw. zeitlich verzögerten Bildung eines neuen Endtriebes. Andrea Doris Kupferschmid

Verbiss des Endtriebes durch Rehe, Gämsen und Rothirsche, aber auch durch Wildschweine, Hasen, Mäuse, Eichhörnchen, Vögel oder Schnecken, führt zu einem Verlust an Baumhöhe (Baumlänge), aber auch von Nährstoffen und Meristemen (Bildungsgewebe wie Knospen). Durch Verlust der Endknospe kommt es insbesondere zu einem Verlust der Sprossapikalmeristeme und damit der Apikaldominanzn des Endtriebes.

Abb. 1: Unter guten Bedingungen reagiert die monopodial wachsende Vogelbeere auf Verbiss im Frühsommer (gelber Pfeil) unverzüglich mit der Bildung eines neuen Endtriebes aus einer zuvor regulär gebildeten Knospe am Endtriebreststück.

Generell gibt es 3 Arten wie ein Bäumchen einen neuen Endtrieb bilden kann: i) aus einer regulär gebildeten Knospe (welche zu einem Seitentrieb wachsen würde, Abb. 1 und 2), ii) aus einer schlafenden oder einer neu gebildeten Knospe (Adventivknospe, Abb. 3) oder iii) es kann einen bereits vorhandenen Trieb aufstellen (Abb. 4). Dies kann noch in der gleichen Vegetationsperiode (Abb. 1), in der Vegetationsperiode nach dem Verbiss (Abb. 2) oder um ein bis mehrere Jahre verzögert (Abb. 3) geschehen. Dabei kann das Bäumchen Knospen bzw. Triebe verwenden welche ganz oben am Stämmchen (z.B. direkt unterhalb der Verbiss-Stelle) oder tiefer unten liegen. Je weiter unten das Bäumchen reagiert, desto grösser ist in der Regel der Höhenverlust durch Verbiss (ausser bei Aufstellen von Trieben).

Abb. 2: Reaktion einer Weisstanne aus einer regulär gebildeten Knospe nach x-maligem Winterverbiss (gelbe Pfeile zeigen die Verbissstellen).

Die Art und Weise, sowie der Zeitpunkt der Reaktion der Bäumchen nach Verbiss des Endtriebes hängt insbesondere ab von:

– der Stärke des Verbisses,
– der Saison des Verbisses,
– der Baumlänge zum Zeitpunkt des Verbisses,
– der Baumart,
– den standörtlichen Bedingungen,
– den klimatischen Bedingungen, sowie
– der Provenienz der Bäume.

Abb. 3: Diese Weisstanne bildete nur eine neue Knospe als Reaktion auf Verbiss. Der neue Endtrieb wird damit um mindestens ein Jahr verzögert sein.

Endtrieb-Verbissstärke

Nach starkem Endtriebverbiss gibt es bei vielen Baumarten keine regulären Knospen mehr am Reststück des Endtriebes. Dies bedeutet, dass zwingend eine neue Knospe gebildet werden muss oder eine schlafende Knospe austreiben muss. Wenn zusätzlich die Seitentriebe verbissen sind, fällt auch die Reaktion durch Aufstellen von Seitentrieben weg. Wenn hingegen nur leichter Endtriebverbiss vorliegt, also praktisch nur die Endknospe fehlt, dann können auch reguläre Seitenknospen zu neuen Endtrieben austreiben. Hinzu kommt, dass starker Verbiss häufiger zu Mehrstämmigkeit führt als leichter Verbiss und damit zu geringerer Stammqualität.

Bei der Buche gab es z.B. in den Triebschnittexperimenten im WSL-Pflanzgarten in Birmensdorf und auf dem Brunnersberg oberhalb von Matzendorf (SO, 1000 m ü. M) keine Differenzen zwischen ungeschnittenen und leicht geschnittenen (Schnitt direkt unterhalb der Endknospen), wohingegen die stark geschnittenen deutlich kleiner waren, weniger Höhenzuwachs hatten etc.

Häufigkeit und Abstand des Verbisses

Je häufiger ein Bäumchen verbissen wird und je kürzer die Abstände zwischen zwei Verbiss-Ereignissen, je grösser ist der Stress für das Bäumchen und desto schlechter ist die Reaktion (neue statt bereits vorhandene Knospen, zeitliche Verzögerung etc.). Dies gilt aber nicht unter sehr guten Bedingungen bei nur Endknospenfrass (Abb. 2).

Saison des Verbisses

Der Zeitpunkt des Verbisses ist wichtig, da er darüber entscheidet, wie viele Reserven verlorengehen und in welchem Ausmass die Ressourcenaufnahme dadurch limitiert wird. Generell wirkt Sommerverbiss am negativsten, da das Bäumchen i) mehr Nährstoffe verliert, ii) kaum mehr Zeit hat auf den Verbiss im aktuellen Jahr zu reagieren (und falls es reagiert, diese neuen Triebe oft weniger verholzt werden und weniger Frost resistent sind) und iii) weniger Stickstoff aufnehmen kann und damit weniger gespeichert werden kann für das Wachstum im nächsten Jahr. Auch beim Zurückschneiden von Obstbäumen oder von Hecken wird im Herbst oder Frühling vor dem Austrieb geschnitten und nur im Sommer, wenn das Wachstum gedrosselt werden sollte.

Abb. 4: Aufstellen eines Seitentriebes ist bei Buchen mit steil stehenden Ästen (vertikalem Wuchs) häufig. Der gelbe Pfeil zeigt die Stelle des Triebschnittes.

Baumlänge

Je grösser die Bäumchen sind, desto mehr Reserven haben sie, desto länger sind die Wurzeln zur Wasser- und Nährstoffaufnahme und desto mehr Meristeme sind vorhanden aus denen wieder ausgetrieben werden kann. Deshalb ist der Verbiss an kleinen Bäumchen gravierender als an grösseren Bäumchen. Hinzu kommt, dass ein Biss eines Rothirsches proportional einen stärkeren Verbiss bei einem kleinen als bei einem grösseren Bäumchen bedeutet. Kleinere Bäumchen werden oft auch ganz konsumiert oder es werden (fast) alle Meristeme abgefressen, so dass keine Reaktion mehr möglich ist (Totverbiss).

Baumart und damit die Wuchsform

Der Speicherort der Reserven im Winter liegt bei laubabwerfenden Bäumen in den dickeren verholzten Trieben und den Wurzeln, wohingegen er bei den immergrünen Nadelbäumen in den jungen Nadeln liegt. Dies führt dazu, dass der Verbiss in der Regel zu einem grösseren Verlust an Stärke und Nährstoffen bei den Nadelbäumen führt und damit zu einem kleineren Reaktionstrieb im Vergleich zu Laubbäumen.

Das Verzweigungsmuster (monopodial vs. sympodial), die Architektur des Baumes, sowie die Anzahl und Grösse der Blätter (und damit der Achselknospenmeristeme) bestimmen, wie flexibel die Bäumchen auf Endtriebverlust reagieren.

Bei sympodial verzweigenden Baumarten, wie z.B. Hagebuchen, Linden, Ulmen, Kastanien, Weiden und Birken, wächst die Hauptachse immer mittels einer Achselknospe (hier als Seitenknospe bezeichnet) weiter. Ein Verbiss der obersten Knospe hat damit auf die Stammform der Hauptachse praktisch keinen Einfluss. Eine Kompensation der Biomasse wird, insbesondere von den kleinblättrigen sympodial wachsenden Arten, sehr rasch erzielt. Verbiss führt aber meist zu einer Verbuschung.

Bei der monopodialen Verzweigung hat der Endtrieb Vorrang vor den Seitentrieben. Letztere werden hormonell unterdrückt. Fällt diese Apikaldominanz weg, führt dies unverzüglich zu stärkerem Wachstum dieser ehemals unterdrückten Meristeme (Abb. 1). Wenn die Seitenknospen z.B. gegenständig am Stämmchen stehen (wie z.B. bei Eschen und Ahornen), führt Verbiss meist (mindestens vorübergehend) zur Zwieselbildung, da beide obersten Knospen austreiben (Abb. 5). Nach Verbiss im Frühling oder Sommer wird das Stück oberhalb der reagierenden Knospen nicht mehr verholzt und verdorrt. Generell gilt, je mehr Seitenknospen am Endtriebreststück nach Verbiss noch vorhanden sind, desto eher reagieren die Bäumchen auf Verbiss unter Nutzung einer dieser regulär gebildeten Knospe. Im Gegensatz zu sympodial verzweigenden Baumarten kompensieren die monopodial verzweigenden Baumarten rascher die Baumhöhe. Sekundär wird die Biomasse über grössere Blätter an diesen neuen Endtrieben kompensiert.

Die Buche hat zwar ein monopodiales Verzweigungsmuster, ihre Architektur besteht aber aus identischen nebeneinanderliegenden Trieben (wie bei Linde, Hainbuche und Ulme), weshalb die Buche nach Wegfall der Apikaldominanz aus irgendeiner Knospe an irgendeinem Trieb reagiert. Diese Flexibilität erschwert die retrospektive Sichtbarkeit des Verbisses. Nur bei der Hälfte der Buchen lag die Schnittstelle immer noch entlang der Hauptachse und würde damit in Inventuren als „Endtriebverbiss“ erkannt (vergl. Abb. 6). 81% der Buchen reagierten nach leichtem Triebschnitt aus einer Knospe am Triebreststück, wobei 2/3 die wirklich oberste noch vorhandene Knospe nutzten und 1/3 eine etwas weiter unten liegende Knospe. Die restlichen Buchen stellten bestehende Triebe auf.

Baumarten mit einem horizontalen Wuchs der Seitenachsen (wie Weisstanne, Buche, Linde, Hainbuche und Ulme) stellen bestehende Triebe viel weniger oft auf als Baumarten mit vertikalem Wuchs (wie Ahorn, Esche, Weide, Birke oder Fichte und Föhre).Wenige der kleinen Weisstännchen (< 10 cm) unter ca. 80%iger Beschattung waren in der Lage, Seitentriebe aufzustellen. Während grössere Weisstannen ihre Triebe praktisch nur in Triebschnittexperimenten unter besten Bedingungen aufstellten (WSL-Pflanzgarten), nicht aber unter natürlichen Bedingungen im Wald. Fichten reagieren hingegen oft mit Aufstellen von Seitentrieben auf einen Endtriebverbiss. Hier ist es in erster Linie ein «Mangel» an Absenkung in die horizontale Position der Triebe und weniger infolge aktiver Druckholzeinlagerung auf der Unterseite des aufstellenden Triebes. Die Häufigkeit, bestehende Triebe aufzustellen, ist in Triebschnittexperimenten meist der einzige Unterschied in der Reaktion von Fichten und Weisstannen.

Bei der Buche ist das Aufstellen von Seitentrieben eine sehr häufige Reaktionsform (rund die Hälfte der stark geschnittenen Buchen stellte im Triebschnittexperiment bestehende Triebe auf). Aber im WSL-Pflanzgarten in Birmensdorf stellten deutlich mehr Buchen mit vertikalem Wuchs einen Seitentrieb auf als solche mit horizontalem Wuchs. Linden waren im ersten Jahr nach Triebschnitt kleiner, trotz längerem Zuwachs der verbissenen Bäumchen, da diese neuen Endtriebe weniger vertikal wuchsen.

Abb. 5: Zwieselbildung bei gegenständig verzweigenden Baumarten wie Bergahorn. Oft wird mit der Zeit ein Trieb der Dominante, insbesondere nach erneutem Verbiss eines dieser Triebe.

Standörtliche und klimatische Bedingungen

Die lokalen Verhältnisse wie Licht-, Wasser- und Nährstoffverfügbarkeit bestimmen, wie gut ein Bäumchen an einem Standort vor einem Verbiss wächst und damit wie lang der Endtrieb ist und wie viele Knospen daran angelegt wurden. Je mehr Licht, desto mehr Knospen werden gebildet und desto öfter wachsen Johannistriebe (z.B. bei Fichte und Buche) und desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit nach einem Verbiss im Frühling/Sommer noch in derselben Vegetationsperiode zu reagieren oder nach Winterverbiss aus regulär gebildeten Knospen zu reagieren. Unter guten Bedingungen werden auch mehr Seitentriebe angelegt und damit das Aufstellen eines Seitentriebes häufiger beobachtet, z.B. in Lücken oder Freiflächen.

Die allg. Stresssituation des Baumes, also seine Vitalität, entscheidet auch darüber, wie schnell ein Baum nach Endtriebverbiss reagiert. Beschattung, Trockenheit und/oder Nährstoffmangel können dazu führen, dass - abgesehen von der Endknospe – insbesondere die grossblättrigen Laubbaumarten und die immergrünen Nadelbäume gar keine Seitenknospen am Endtrieb anlegen. Selbst die schattentolerante Weisstanne reagiert, z.B. unter stark beschatteten Verhältnissen, oft x Jahre verzögert. Sie braucht zuerst ein Jahr zur Bildung einer neuen Knospe (Abb. 3), aus der im Jahr darauf ein Endtrieb auswächst.

Eine Kombination von relativ dunklen Waldbeständen und Trockenheit können auch bei Laubbäumen verzögerte Reaktionen bewirken. Rund 1/5 bis ¼ der Ahorne, Buchen, Eschen und Kirschen hatten am Ende der Vegetationsperiode keinen neuen Endtrieb im Forstrevier Kirchberg. Je häufiger ein Bäumchen verbissen wurde, desto kleiner waren seine Höhenzuwächse auch in unverbissenen Jahren. Dies zeigt, dass der Verbiss über mehrere Jahre negativ wirken kann, wenn die standörtlichen und klimatischen Bedingungen nicht «optimal» sind.

Jede Baumart kann unter besten Bedingungen den Verbiss überkompensieren, d.h. verbissene Bäume sind x Jahre nach dem Verbiss grösser als unverbissene Bäume. Diese Tatsache stellt man oft in Triebschnittexperimenten in Versuchsgärten fest. Licht-, Wasser- und/oder Nährstoffmangel führen aber in allen diesen Experimenten zu kleinerem Zuwachs mindestens im ersten Jahr nach Verbiss. Einige Experimente wurden gar nicht erst publiziert, weil z.B. nur unverbissene Bäumchen die Trockenheit überlebten, die verbissenen hingegen alle starben. Generell sind kleinere Bäumchen viel schneller «gestresst» als grössere Bäumchen. Ein Standort kann deshalb heute für die «adulten» Bäume noch gute Bedingungen hergeben, für die Baumverjüngung hingegen (in Kombination mit Verbiss) zu limitierend wirken.

Provenienz

Triebschnittexperimente zeigten, dass Fichten aus Samen von Tieflagen effizienter als solche von Hochlagen auf Endtriebschnitt reagierten. Das heisst, Mittelland-Provenienzen bildeten häufiger aus den obersten Knospen einen neuen Endtrieb. Tannen aus Samen von Tieflagen reagierten schneller auf Endtriebschnitt, d.h. ohne zeitliche Verzögerung, als solche von Hochlagen. Hingegen war die Resilienz nach Verbiss bei der Buche unabhängig von der Samenherkunft. Zu anderen Baumarten, wie z.B. Spitzahorn und Eiche, liegen keine kombinierten Provenienz- und Triebschnittversuche aus der Schweiz vor.

Es ist jedoch noch anzumerken, dass Fichten und Tannen schlechter auf Frostschäden reagierten als auf den Triebschnitt oder auf natürlichen Verbiss.

Fazit

Nicht jeder Verbiss ist ein gleich grosser «Schaden» für das einzelne Bäumchen. Aber dort wo die Standortsverhältnisse sonst schon relativ schlecht für das Wachsen eines Baumes sind, wirkt der Verbiss am negativsten. Verbiss selber ist ein zusätzlicher Stressfaktor, so dass bei wiederholtem Verbiss die Reaktion noch verzögerter ist bzw. der Zuwachs des neuen Endtriebes noch kleiner ist. Der Klimawandel verstärkt also an einigen Standorten die Wald-Wild Situation.

Wichtig zur Einschätzung des Verbisseinflusses ist, wie stark verbissen wurde, ob die Bäume verzögert reagieren, wie stark Verbiss die Zuwächse in den Jahren nach Verbiss reduziert und ob Verbiss die Zuwachsverhältnisse der Baumarten untereinander verschiebt. Um dies abschätzen zu können, reicht die Verbissintensität nicht. Es braucht detaillierte Informationen z.B. über die Ansprache der zwei nächsten Bäume je Art und Höhenklasse (siehe k-Baum Methode) im Herbst.

Andrea Doris Kupferschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Eidg. Forschungsanstalt WSL und erforscht den Einfluss von Reh, Gams und Rothirsch auf die Baumverjüngung. Sie berät bei Verjüngungs- bzw. Verbissinventuren und wertet das LFI bezüglich Verbisses aus.

 

Literatur

Zusammenfassung aus:

Kupferschmid A.D. (2017). Compensation capacity of Central European tree species in response to leader shoot browsing. Ungulates: evolution, diversity and ecology. A. Menendez and N. Sands. Hauppauge, New York, USA, Nova Science Publishers: 1-63.

Ergänzt durch

Angst J.K. & Kupferschmid A.D. (2023). Assessing browsing impact in beech forests: the importance of tree responses after browsing. Diversity 15(2): 262.

Frank A., Heiri C. & Kupferschmid, A.D. (2019). Growth and quality of Fagus sylvatica saplings depend on seed source, site, and browsing intensity. Ecosphere 10(1): 1-19.

Kupferschmid A.D. & C. Heiri (2019). Recovery of Abies alba and Picea abies saplings to browsing and frost damage depends on seed source. Ecol. Evol. 2019(9): 3335–3354.

Ergänzende Literatur in deutscher Sprache

Kupferschmid A. D. & Angst J.K. (2023). Auswirkungen des Verbisses in Buchenwäldern. Schweiz. Z. Forstwes. 174(5): 304-305.

Kupferschmid, A. D., Brang P. & Bugmann H. (2019). Abschätzung des Einflusses von Verbiss durch wildlebende Huftiere auf die Baumverjüngung. Schweiz. Z. Forstwes. 170(3): 125–134.

Kupferschmid, A. D., Wasem U, & Bugmann, Harald (2014). Wie reagiert die Weisstanne nach Verbiss? Wald Holz 95(4): 23-26.

Wildschutzzäune im Forstrevier Albula - eine kostspielige Notlösung

Um in Schutzwäldern eine minimale Verjüngung zu sichern, werden im Forstrevier Albula seit Jahrzehnten Wildschutzzäune mit Pflanzungen erstellt. Der Totalausfall von diversen standortgerechten Baumarten (an vielen Orten auch Fichten) sowie gepflanzten Klimabaumarten ist ein grosses Problem. Der anhaltend wildbedingte Verjüngungsausfall hinterlässt in wichtigen Schutzwäldern zunehmend Schutzlücken. Diese Lücken müssen geschlossen werden, um Verkehrsträger und weitere Infrastrukturen vor Naturgefahren zu schützen. Als Alternative zum Erstellen von permanenten Schutzbauten in diesen Gebieten sind Wildschutzzäune mit Pflanzungen eine mögliche Option, jedoch eine sehr kostspielige. Ben Turner

Abb. 1:God las Margiaschlas: Wildschutzzäune sichern die Verjüngung in Schutzlücken oberhalb der Rhätischen Bahn und der Kantonsstrasse Filisur-Bergün. (Bilder: Ben Turner, Forst Albula)

 

Im Forstrevier Albula stehen zurzeit 210 Wildschutzzäune (Gesamtlänge 20 884 m Horizontaldistanz). Die Zäune wurden zwischen 1994 und 2023 erstellt und schützen eine Fläche von 16,2 ha vor Wildeinfluss. Einzelbaumschutzmassnahmen und Zäune in Wald-Weiden sind darin nicht enthalten. Diese 16,2 ha entsprechen 0,2% der produktiven Waldfläche des Forstreviers, also einem Bruchteil der Fläche, auf welcher aktuell (klimafitte) Verjüngung aufwachsen sollte. Der längste Wildschutzzaun misst 664 m, der kürzeste 14 m, wobei die durchschnittliche Zaunlänge bei 100 m liegt.

In den letzten Jahren wurden insgesamt 36 ausgediente Zäune mit einer Länge von 4491 m abgebrochen und fachgerecht entsorgt.

 

Abb. 2: Cuolm da Latsch: Montage der Knotengitter für den Wildschutzzaun.

 

Kosten

Eine Hochrechnung (siehe Tabelle auf den Folgeseiten 48/49) für das Revier zeigt auf, dass für die aktuell bestehenden Wildschutzzäune Gesamtkosten von rund CHF 2,9 Mio. anfallen, respektive CHF 178 000.– pro Hektar ­behandelte Fläche. Im Schnitt jährlich rund CHF 115 000.–. Abzüglich Beiträge von Bund und Kanton müssen die Waldbesitzer immer noch rund CHF 1,2 Mio. an Restkosten selbst finanzieren, im Schnitt jährlich rund CHF 50 000.–.

Die Kosten für Wildschutzzäune setzen sich aus Erstellungskosten, Unterhalts- und Rückbaukosten zusammen, welche auf eine Lebensdauer von 25 Jahren hochgerechnet wurden.

Regelmässige Kontrollen im Frühjahr, Herbst und nach Schadenereignissen (Windwurf und Schneedruck) und die sofortige Behebung von Schadstellen sind unabdingbar für den Verjüngungserfolg.

 

Zaunbau

Heutzutage werden die Wildschutzzäune mit einer Mindesthöhe von 2,2 m und einer Lebensdauer von mindestens 25 Jahren erstellt.

 

Material

Kastanienpfosten gespitzt, 330 cm lang, Durchmesser 10/12 cm

Kastanienstreben 400 cm lang, Durchmesser 10/­12 cm

Knotengitter Ursus AS Medium 180 cm

Litzendraht gewellt verzinkt 3,3 mm

Evtl. Litzendraht verzinkt 2,2 mm und Beton­stahl 18 mm mit Schrägschnitt für Abspannungen Ecken, wenn nötig.

Agraffen/Nägel/Zaunringklammern

 

Die Materialkosten betragen rund CHF 23.–/m exkl. MwSt.

 

 

Ablauf Erstellung Wildschutzzäune

1. Zaunverlauf wird im Gelände abgesteckt. Die Fläche vorbereitet (Schlagräumung, Mäharbeiten). Das Material bereitgestellt und zur Baustelle transportiert (Heli oder terrestrisch).

2. Rammen der Zaunpfosten. Der Abstand der Pfosten beträgt je nach Gelände zwischen 2,3 und 2,5 m. Die Rammarbeit erfolgt von Hand mit der Handramme oder sofern irgendwie möglich mittels Schreitbagger. Das maschinelle Rammen der Pfosten erleichtert die körperlich sehr anstrengende Arbeit und ist auch wirtschaftlicher. Pro Zaun wird mindestens ein Überstieg erstellt.

3. Montage der Streben an den Ecken.

4. Montage Knotengitter. Das Kontengitter wird mit einem kleinen Seilzug gespannt.

5. Befestigung Litzendraht und Zaunringklammern oberhalb des Knotengitters.

6. Anbringung Sprungdraht.

7. Erstellung der Überstiege. Eventuell Ecken mit Litzendraht zurückbinden.

8. Pflanzungen ausführen.

9. Aufnahme fertiger Zaun mit GPS. Montage Nummer-Plättchen. Nachführung im GIS.

 

Ideale Zaungrösse

Eine pauschale Aussage über die ideale Zaungrösse kann nicht gemacht werden. Kleinere sowie grös­sere Zäune (ab ca. 300 m) haben ihre Vor- und Nachteile. Grosse Zäune haben den Vorteil, dass pro Laufmeter Zaun eine grössere Verjüngungsfläche geschützt wird. Jedoch werden auch Baumgruppen eingezäunt, welche keinen Schutz benötigen. Die Kontrolle und das Auffinden von Schadstellen und allfälligem Wild im Zaun wird schwieriger. Ebenfalls kann der Schaden von eingedrungenem Wild bei einem unbemerkten Zaundefekt grösser sein, als wenn von einigen kleineren Zäunen nur einer betroffen ist. Bei kleineren Zäunen kann meistens auf einen Blick kontrolliert werden, ob Schäden vorliegen oder Wild im Zaun ist. Bei grossen Zäunen ist eine Kontrolle im Spätwinter, so lange noch Schnee liegt, ideal, dann weisen allfällige Trittspuren von Schalenwild auf ein Schlupfloch hin.

Viele verjüngungsbedürftige Gebiete im Forstrevier wurden über die Jahre sukzessive mit Zäunen geschützt, daher sind meistens kleinere bis mittlere Zäune vorhanden.

 

«Ein Tropfen auf den heissen Stein»

Die Ausgangslage betreffend Waldverjüngung ist vielerorts leider verheerend. Einen guten Einblick bietet die interaktive Karte Wald-Wild des AWN, welche den Wildeinfluss auf die Waldverjüngung darstellt. In sehr wichtigen Schutzwäldern mit direkter Schutzfunktion – insbesondere auf der orographisch rechten Talseite des Albulatals – bereitet die ausbleibende Waldverjüngung zunehmend Sorgen. Ohne Schutz kommt nicht einmal die Verbiss-unempfindliche Fichte auf. Zusätzlich sollten dringend auch verschiedene Klima-Baumarten aufwachsen, zumindest als zukünftige Samenbäume. Weiter ist anzunehmen, dass durch den Klimawandel das Risiko für Schäden durch Naturereignisse (RhB, Kantonsstrasse, teilweise Siedlungsraum) exponentiell zunehmen wird. Die Kosten für Verjüngungsschutz sind sehr hoch. Der Einsatz von Wildschutzzäunen dient zumindest der aktiven Schliessung von Schutzlücken, welche alternativ die Erstellung von noch kostspieligeren Schutzbauten zur Folge hätten.

– Für den lokalen Forstdienst stellen sich in diesem Zusammenhang konkrete Fragen:

– Wie können effizient und nachhaltig bestehende Schutzlücken in den Schutzwäldern geschlossen werden?

– Wie soll der andauernden Baumartenentmischung entgegengewirkt werden?

– Wie ist eine flächendeckende Einbringung von zukünftigen Klimabaumarten möglich, obwohl dies aktuell ohne Wildschutzmassnahmen chancenlos ist?

– Können wir mit passiven Wildschutzmassnahmen zuwarten oder verlagern wir das Problem damit auf die nächsten Förstergenerationen?

– Warum muss der Waldbesitzer in diesem Zusammenhang Kosten tragen? Er kann praktisch keinen Einfluss auf das Problem respektive auf das Wildmanagement nehmen.

– Ist nicht die einzige, wirklich Erfolg versprechende und nachhaltige Lösung, dass der Wildeinfluss auf ein waldverträgliches Mass reduziert wird?

 

Abb. 3: Temporärer Schneerechen: Unterhalb eingezäunt mit Verjüngung, welche bald die Schutzfunktion übernimmt; oberhalb ohne Zaun = Totalausfall der Verjüngung,

 

Ben Turner ist Revierförster beim Forst Albula.

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