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Erfolgsfaktoren im Spannungsfeld Wald und Wildtiere im Toggenburg

Im Toggenburg verjüngt sich seit einigen Jahren die Tanne an vielen Standorten ohne grossen Einfluss der Wildhuftiere. Diese positive Entwicklung hat verschiedene Erfolgsfaktoren. Christof Gantner

Die Waldregion 5 Toggenburg ist eine von fünf Waldregionen und liegt mitten im Kanton St.Gallen. Sie besteht aus zwei Tälern, die sich von Südosten nach Nordwesten erstrecken. Der höchste Punkt ist der Säntis mit 2502 m ü. M. und der tiefste befindet sich auf 550 m ü. M. Die Waldregion dehnt sich von der voralpinen Hügelzone über die Voralpen bis in die Nordalpen. Das Toggenburg ist sehr niederschlagsreich. Der mittlere Jahresniederschlag der Messstation in Ebnat-Kappel liegt bei rund 1800 mm. Die hohen Niederschlagsmengen sowie die tonhaltigen Böden sind die Voraussetzung für wüchsige Wälder. Das eher kühle Klima begünstigt Tanne und Buche. Im Toggenburg dominieren wüchsige und feuchte Buchen-, Tannen-Buchen- und Tannen-Fichtenwälder. Die wichtigsten Baumarten sind daher in abnehmender Reihenfolge Fichte, Buche, Tanne und Bergahorn. Die Wälder werden schon seit Jahrzehnten stufig bewirtschaftet.

Abb. 1: Reichverzahnte Landschaft im Toggenburg. (Bild: Kantonsforstamt St. Gallen)

Die Waldregion 5 umfasst eine Waldfläche von 14 500 ha Wald mit einem Privatwaldanteil von 70 Prozent. Der Wald verteilt sich auf rund 3700 Waldeigentümerinnen und Waldeigentümer, die mehrheitlich landwirtschaftlich geprägt sind. Die starke Verzahnung von Wald und Offenland führt zu über 3800 km Waldrand. Die Nutzung liegt bei rund 90 000 fm pro Jahr. Zwei Drittel der Wälder schützen vor Naturgefahren. Es bestehen sechs Wald­reservate, zwei davon zur Förderung des Auerhuhns. Das Toggenburg ist eine Tourismusregion mit dem Schwerpunkt in der Gemeinde Wildhaus-Alt St. Johann.

Abb. 2: Rehgeiss im Wald. (Bild: Kantonsforstamt St. Gallen)

Jagd und Wildtiere im Toggenburg

Der Kanton St. Gallen hat die Revierjagd. In der Waldregion 5 Toggenburg befinden sich 30 Jagdreviere. Diese gehören entweder dem Rotwildhegegebiet 1 oder 3 an. Die für den Wald relevanten Wildhuftiere Reh, Rothirsch und Gams kommen im gesamten Toggenburg vor. Das Reh ist flächig anzutreffen. Der Abschuss hat sich in den vergangenen Jahren bei etwas über 1000 Stück eingependelt. 1998 wurden über 1400 Rehe erlegt. Der schneereiche Winter 1999 führte grossflächig zu hoher Sterblichkeit, was zu einem Rückgang des Abschusses gegenüber 1998 von knapp 30 Prozent führte. Danach stieg der Abschuss nicht mehr auf die Werte von 1998 an. Dies hat mit der zunehmenden Luchspopulation zu tun. Der Abschuss widerspiegelt die grobe Entwicklung des Bestandes.

Der Rothirsch hat sich seit 2008 kontinuierlich im Toggenburg ausgebreitet. Er kommt vor allem südlich von Ebnat-Kappel sowie im Gebiet Hörnli-­Tössstock in grösseren Populationen vor. In den übrigen Gebieten sind die Bestände deutlich tiefer. Die Zählungen im Rothirschhegegebiet 1 zeigen für das Toggenburg einen stetigen Anstieg des Bestandes. Auch der Abschuss nahm kontinuierlich zu und hat sich seit 2006 mehr als verdoppelt. Dieser lag 2023 bei 166 Rothirschen.

Die Gämse kommt im Alpstein und in den Churfirsten oberhalb der Waldgrenze vor. Die alpinen Gamsbestände haben für den Wald keine nennenswerte Bedeutung. In vielen Bachtobeln und mit Fels durchzogenen Wäldern finden sich über die gesamte Waldregion verteilt Gamsrudel. Diese sind, nachdem sie mit der Ausbreitung des Luchses stark zurückgegangen sind, in den letzten Jahren kontinuierlich angewachsen. Rund die Hälfte der Gämsen werden im Toggenburg im Waldgebiet erlegt. Da die Gamsbestände im ganzen Kanton, insbesondere im alpinen Raum, stark zurückgegangen sind, wurde die Bejagung aller Gämse reduziert. Davon hat die Waldgams profitiert. Auch die Wintermortalität ist sehr gering und das Äsungsangebot ausserhalb des Waldes gut.

Abb. 3: Tanne auch ohne Clip aus dem Äser gewachsen. (Bild: Waldregion 5 Toggenburg)

Entwicklung des Verbisses

Aus alten Akten geht hervor, dass vor 2000 in vielen Gebieten der Wildverbiss bei der Tanne so gross war, dass sich diese kaum verjüngen konnte. Zwischen 2000 und 2014 führte das Kantonsforstamt St.Gallen auf ausgewählten Indikatorflächen Verjüngungskontrollen nach Methode Daniel Rüegg durch. Die Flächen wurden dort angelegt, wo von einer Gefährdung der Mischbaumarten auszugehen war. Die mittlere Verbissintensität über alle Baumarten hat sich von 33 auf 15 Prozent und bei der Tanne von 37 auf 20 Prozent reduziert. Auch die gutachterliche Beurteilung des Verbisses zeigte 2000 fast für das gesamte Toggenburg eine Gefährdung von Mischbaumarten und Tanne. In einigen Gebieten war der Verbiss so stark, dass sogar die Gefährdung aller Baumarten befürchtet wurde. Die gutachterliche Beurteilung fand 2008 das letzte Mal statt. Über die acht Jahre hat sich die Situation deutlich verbessert. So nahmen die Flächen ohne Gefährdung von Baumarten um 32 Prozent zu und diejenigen mit Gefährdung von Mischbaumarten und Tanne um 30 Prozent ab. Die Flächen mit einer Gefährdung aller Baumarten sind sogar ganz verschwunden. 2018 führte das Kantonsforstamt als Pilot die Verjüngungskontrolle zusammen mit der WSL in den Wildräumen 2 und 8 durch. Ein Teil des Toggenburgs liegt im Wildraum 2. Auf einem fixen Stichprobenraster wurden pro Baumart und Höhenklasse die zwei am nächsten zum Stichprobenpunkt liegenden Bäumchen erfasst. Bei der Tanne waren 14 Prozent hauptsächlich im Winter verbissen. Beim Bergahorn lag der Verbiss bei 45 Prozent. Dabei wurde der grösste Teil der Bäume im Sommer verbissen. Es konnte aufgezeigt werden, dass für Fichte, Tanne und Buche nicht mit einem relevanten Einfluss durch Wildhuftiere zu rechnen ist. Beim Bergahorn hingegen könnte der Verbisseinfluss zu einer längerfristigen Abnahme gegenüber der Buche führen. Die Methodik und die detaillierten Resultate wurden im «WALD und HOLZ» 11/2019 unter dem Titel «Verbisseinfluss in der Tannenwaldstufe» publiziert. Die Resultate bestätigen den langfristigen Trend, dass sich die Verjüngungssituation in den Toggenburger Wäldern deutlich verbessert hat.

Abb. 4: Luchs nutzt den Riss über mehrere Tage. (Bild: Kantonsforstamt St. Gallen)

Luchs als Erfolgsfaktor

Für diese positive Entwicklung gibt es mehrere Erfolgsfaktoren. Der schneereiche Winter 1999 führte zu einer hohen Mortalität besonders beim Reh. Gleichzeitig startete 2001 das Luchsumsiedlungsprojekt Luno der drei Kantone St.Gallen, Zürich und Thurgau. Das Toggenburg lag mitten im Projektperimeter. Bis 2008 wurden zwölf Luchse ausgesiedelt. Im Winter 2021/2022 konnte Kora mittels Fotofallenmonitoring 20 selbstständige Luchse nachweisen. Gemäss Schätzung gehen die Forscher von 22 Tieren aus. Dies entspricht einer Dichte von 2,79 Luchse pro 100 km² geeignetem Habitat (Quelle: Kora Bericht Nr. 109, 2022[1]). Der Luchs führte dazu, dass der Rehbestand nach dem Winter 1999 nicht mehr so hoch anstieg. Auch der Waldgamsbestand ging als Folge der Luchspräsenz deutlich zurück.

Im Forstrevier Stockberg erfassen die Förster seit 1989 auf verschiedenen Probeflächen den Verbiss. Bei der Tanne waren bis 2011 je nach Jagdrevier im Mittel 26 bis 38 Prozent der Jungpflanzen verbissen. Mit der Zunahme der Luchspräsenz im Gebiet nahm 2012 der Verbissdruck deutlich ab und pendelte sich zwischen 3 bis 20 Prozent ein. Der Luchs hat nicht nur einen Einfluss auf die Dichte seiner Beutetiere, sondern auch auf deren Verteilung. Die Rehe haben ihr Verhalten der Präsenz des Prädators angepasst. So lagern sie in der Nacht nicht mehr am Waldrand, sondern mitten in der Wiese oder sogar in unmittelbarer Nähe von einzeln stehenden Wohnhäusern. Für die Rehe ist die Gefahr, die vom Luchs ausgeht, deutlich grösser als diejenige durch den Menschen.

 

Weitere Erfolgsfaktoren

Neben der Umsiedlung von Luchsen haben weitere Faktoren zum Erfolg beigetragen. Die Stürme Vivian 1990 und Lothar 1999 haben grossflächige Verjüngungsflächen geschaffen, auf denen ein vielfältiges Äsungsangebot entstand. Die Einführung des neuen Beitragswesens mit dem NFA im Jahr 2008 ermöglichte es, die Schutzwaldpflege im Privatwald zu forcieren und so grossflächig die Waldverjüngung einzuleiten. Seit 2001 wird mit der Schaffung von stufigen Waldrändern das Äsungs- und Deckungsangebot im Wald kontinuierlich erhöht. Auch verschiedene Eingriffe zugunsten der Waldbiodiversität wirken sich positiv aus. All diese Massnahmen haben die Lebensraumkapazität erhöht. Da gleichzeitig der Bestand von Reh und Gams zurückging, konnte ein positiver Effekt auf die Waldverjüngung erreicht werden.

Abb. 5: Lothar-Fläche mit vielfältiger Verjüngung. (Bild: Waldregion 5 Toggenburg)

Die Jagd bei den Rothirschen konzentrierte sich schwergewichtig auf den Abschuss von weiblichen Tieren und Kälbern. In den letzten vier Jahren waren nur ein Fünftel des Abschusses Stiere. Von Waldseite wurde die Jagd bei der Einrichtung von jagdlichen Einrichtungen und Offenhalten von Bejagungsschneisen unterstützt. So konnte auch die Schwerpunktbejagung in Problemflächen gefördert werden. Die Jagdverwaltung wie auch Jagdvereine boten Weiterbildungen zum Thema effiziente Rotwildbejagung an. Die gemeinsame Broschüre «Erfolgreich Rotwild bejagen» [2] enthält Tipps für die Jagdpraxis.

Die Probleme der Wald-Wild-Thematik können die betroffenen Akteure nur gemeinsam lösen. Daher ist die Zusammenarbeit zwischen Forstdienst, Waldeigentümern, Jagdverwaltung und Jagdgesellschaft wichtig. Problemflächen werden zusammen vor Ort angeschaut und gemeinsam Massnahmen festgelegt. Die Umsetzung der Massnahmen und deren Wirkung wird nach einigen Jahren überprüft. Das Kantonsforstamt und die Abteilung Jagd führen regelmässig Begehungen durch. Die Förster nehmen mindestens einmal im Jahr Kontakt zu den Jagdgesellschaften auf, um im Austausch zu bleiben. Auch der Dialog zwischen der Wildhut und der Waldregion findet laufend statt. Dies fördert das gegenseitige Verständnis. Für die Zusammenarbeit ist es wichtig, dass die fachlichen Grundlagen, im Bewusstsein der Ungenauigkeiten, gegenseitig akzeptiert werden. Gleichzeitig werden diese Grundlagen laufend verbessert und weiterentwickelt.

Abb. 6: Holzerei schafft Äsung und Lebensraum. (Bild: Waldregion 5 Toggenburg)

Die Förster führen pro Jagdrevier alle vier Jahre eine Lebensraumbeurteilung durch. Die gutachterliche Einschätzung des Wildeinflusses auf die Waldverjüngung wird mit den Wildhütern abgeglichen. Zusammen mit den Jagdgesellschaften werden Problemgebiete bei der Waldverjüngung, für die Jagd und die menschliche Störung diskutiert und festgehalten. Für jeden Problempunkt vereinbaren die beiden Partner Massnahmen, deren Umsetzung im jeweiligen Einflussbereich liegt.

 

Dranbleiben für die Zukunft

Die Wald-Wild-Situation ist dynamisch. Daher ist es wichtig, Veränderungen frühzeitig wahrzunehmen, um rechtzeitig reagieren zu können. Eine der grossen Herausforderungen ist der Klimawandel. Bis anhin seltene Baumarten, die wie die Eiche stark verbissanfällig sind, müssen sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten auch im Toggenburg verjüngen können. Wie gross der Wildeinfluss in Zukunft auf die Verjüngung sein wird, ist schwierig abzuschätzen. Der vergangene Winter hat gezeigt, dass die Wintersterblichkeit bei Reh, Rothirsch und auch Waldgams deutlich an Bedeutung verliert und schwache Tiere den Winter überstehen. Die Verjüngung einer Waldgeneration braucht zehn bis zwanzig Jahre, darum ist es für den Forstdienst wichtig dranzubleiben, damit die Erfolgsfaktoren weiterhin wirken und der konstruktive Dialog erhalten bleibt.

Abb. 7: Gemeinsame Begehung von Kantonsforstamt und Abteilung Jagd. (Bild: Kantonsforstamt St. Gallen)

Die Luchse sind der wichtigste Teil der Erfolgsgeschichte. Daher ist der Bestand vor jagdlicher Regulation zu schützen und Inzucht vorzubeugen. Da Luchse im Gegensatz zum Wolf schlechte Besiedler sind, werden Bestandeslücken langsamer geschlossen und die Vernetzung mit anderen Populationen ist klein. Dies birgt auch das Risiko einer genetischen Verarmung (siehe Kasten). Da die Population Nordostschweiz aus drei verschiedenen Populationen stammt, ist die genetische Vielfalt noch recht hoch.

Abb. 8: Beurteilung der Tannenverjüngung durch den Forstdienst. (Bild: Waldregion 5 Toggenburg)

Fazit

Im Toggenburg hat der Luchs in Kombination mit Naturereignissen (Winter 1999, Vivian, Lothar) die angespannte Wald-Wild-Situation verbessert, sodass die Lebensraumaufwertungen ihre Wirkung entfalten können. Die Zusammenarbeit der Akteure fördert das Verständnis und bringt tragbare Lösungen. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass im Toggenburg der Einfluss von Reh und Gams auf die Waldverjüngung insbesondere bei der Tanne deutlich bedeutender ist als derjenige des Rothirsches. Wie sich die Bestandeszunahme des Rothirsches auf die Waldverjüngung auswirken wird, ist noch unklar. Offen ist auch, wann und wie der Wolf auf die Hirschpopulation wirkt.

Forstdienst und Waldeigentümer sind gewillt, zusammen mit Jagdverwaltung und Jägern die Toggenburger Erfolgsgeschichte weiterzuschreiben.

Christof Gantner, Forstingenieur ETH, ist Regionalförster in der Waldregion 5 Toggenburg und aktiver Jäger in einem St.Galler Jagdrevier. Er leitet seit dem 1. Januar 2024 die Arbeitsgruppe Wald und Wildtiere des Schweizerischen Forstvereins.

Genetische Verarmung beim Luchs

Der Bericht Nr. 99/2021 der Stiftung Kora «50 Jahre Luchs in der Schweiz»[3] zeigt auf, dass mittels der Gründung der Schweizer Luchspopulation vor 50 Jahren ein genetischer Flaschenhals entstand. Die danach einsetzende Inzucht, verstärkt durch Populationsschwankungen, führt zu einer zunehmend genetischen Verarmung der heutigen Populationen. Das Risiko, dass die Schweizer Luchse zum zweiten Mal aussterben, steigt somit stetig.

Was benötigen die Schweizer Luchs­populationen?

Die Bonn Lynx Expert Group (2021) empfiehlt unter anderem:

– Verbesserung der genetischen Diversität durch Aufstockung (Aussetzung) genetisch passender Tiere

– Verbesserung der Vernetzung der verschiedenen Teilpopulationen

Heute scheint eine Aussetzung von genetisch passenden Tieren für eine Rettung der Schweizer Luchsbestände unausweichlich. Die Luchse brauchen einen Partner, der es versteht, nachhaltig und langfristig zu denken. Dazu sind verantwortungsvolle Forstfachfrauen und -männer mit ihrem weitsichtigen Denken prädestiniert.

 

Ökologischer Jagdverein Schweiz/oejv.ch