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Steinschlag und der Wald -der effektiven Schutzwirkung auf der Spur

Dem aufmerksamen Gebirgswaldbesucher ist das Phänomen hinlänglich bekannt: In felsdurchsetztem, waldigem Gelände findet man hinter vielen grösseren, aber eben auch kleineren Bäumen abgelagerte Steine in unterschiedlicher Grösse. Um die Schutzwirkung des Waldes bezüglich Steinschlag genauer zu untersuchen, führt die SLF-Forschungsgruppe RAMMS verschiedene Experimente durch, dessen Erkenntnisse dann in das Simulationsprogamm RAMMS::ROCKFALL fliessen. Autor: Andrin Caviezel und Adrian Ringenbach

Steinschlag und der Wald – der effektiven Schutzwirkung auf der Spur

Dem aufmerksamen Gebirgswaldbesucher ist das Phänomen hinlänglich bekannt: In felsdurchsetztem, waldigem Gelände findet man hinter vielen grösseren, aber eben auch kleineren Bäumen abgelagerte Steine in unterschiedlicher Grösse. Um die Schutzwirkung des Waldes bezüglich Steinschlag genauer zu untersuchen, führt die SLF-Forschungsgruppe RAMMS verschiedene Experimente durch, dessen Erkenntnisse dann in das Simulationsprogamm RAMMS::ROCKFALL fliessen.

Autor: Andrin Caviezel und Adrian Ringenbach

 

Die Forschungsgruppe RAMMS am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos befasst sich schon lange mit der Entwicklung von Simulationsprogrammen für gravitative Naturgefahren. Das bestbekannte Modul ist RAMMS::AVALANCHE, mit welchem Lawinen in realistischem Gelände simuliert werden können und so wertvolle Aufschlüsse über deren Einwirkungen in den Gefahrenzonen liefert. Seit einigen Jahren existiert nun auch das äquivalente Modul für Sturzbewegungen, RAMMS::ROCKFALL. Auch hier können auf exakten Höhenmodellen die möglichen Sturzbahnen der zu erwarteten Steine digital berechnet werden und so die Gefahrenanalyse des Ingenieurs mit einem räumlichen Eindruck der drohenden Steinschlaggefahr ergänzen. Hierbei sind Grössen wie die zu erwartenden Geschwindigkeiten – und somit Energien – wie auch die Sprunghöhen von Interesse, weil diese die Grösse und auch Kosten allfälliger Schutzmassnahmen massgebend bestimmen.

Jedes Modell bedarf guter Eingabedaten. Für eine RAMMS::ROCKFALL-Simulation bedarf es einer detaillierten Kartierung der vorhandenen Bodentypen, ein gut aufgelöstes, fehlerfreies Höhenmodel und eine Vorstellung der Steinform und -grösse. Hier unterscheidet sich RAMMS von anderen Modellen, da jeder Stein-Boden-Kontakt genau nachgerechnet wird unter Berücksichtigung der Steinform und Aufprallorientierung. Mit gleichen Bodenparametern für alle Steine und Massen ergibt sich natürlicherweise, dass zum Beispiel sehr plattige Steine oftmals ins Rutschen kommen und dadurch schnell einmal durch eine vorhandene Bodenrauigkeit aufgehalten werden. Der typische Steinschlaghang kann oft durch eine steile, felsige Ausbruchfläche, einer mehr oder minder bewachsenen, steilen Transitzone und einem flachen Auslauf mit der zu schützenden Infrastruktur beschrieben werden. Die genaue Eingrenzung der Bodenparameter für diesen Typus von alpinem Hang ist essenziell für eine verlässliche Simulation. Zu diesem Zweck führte die RAMMS-Gruppe seit einigen Jahren vor allem am Flüelapass wiederholt künstliche Steinschlagexperimente durch, um auch eine systematische Datengrundlage für die Beantwortung dieser Fragen zu bekommen. So ergaben sich aus diesen Experimenten Aufschlüsse über den Energieverlust bei jedem Einschlag und insbesondere dessen Abhängigkeit bezüglich Geschwindigkeit und Bodentyp. Zudem konnte der Einfluss der Steinform studiert werden, wo sich zeigt, dass würfelförmige Steine seitlich weniger weit gestreut werden als radähnliche Steine.

 

Der Wald schützt, aber wie stark?

Bei sehr vielen Beispielen stellt sich aber bald einmal auch die Frage nach dem Effekt des Waldes, da die Transitzone oftmals bewaldet ist. Der grosse Stein hinter kleinen Bäumen regt zum Nachdenken an: Wie erreichte der Stein seinen ­jetzigen Ablagerungsort? Woher kam der Stein? Wie hoch war seine Geschwindigkeit? Wie gross waren die Kräfte, welche vom stoppenden Baum abgefangen wurden? Wie hoch sprang der Stein durch die Luft? Wann war das Ereignis? Befinde ich mich in einer Gefahrenzone? Wie sieht das weiter talwärts aus? Fragen über Fragen, auf welche Erfahrungswerte zwar ein Gefühl vermitteln können, oftmals aber klare Antworten darauf fehlen. Da sich ein Modell nur schlecht mit Gefühlswerten füttern lässt, streben wir eine Quantifizierung der Schutzwirkung des Waldes explizit in Bezug auf einen rollenden oder fliegenden Stein an. Hierzu wurden die Experimente auf bewaldetes Testgelände erweitert, um in Zukunft diese offenen Fragen zumindest teilweise beantworten zu können.

 

Die Surava-Trilogie

Der Austausch mit Praxis und Behörden liegt dem SLF am Herzen und so entstand im Kontakt mit dem AWN Region 4 spontan die Idee für Experimente in einem Waldstück, welches für einen regulären forstlichen Eingriff vorgesehen war. Dank der engen Zusammenarbeit wurde es möglich, Experimente vor dem Schlag, nach dem Schlag mit liegendem Totholz und nach der Räumung durchzuführen. Unterhalb des Felsbands Crap Ot/Crap Pisch südlich von Surava waren im Jahre 2017 mehrere Seillinien forstlicher Eingriffe geplant. Die für ein Experiment am günstigsten zugängliche Seillinie befand sich im Bereich der zweiten Haarnadelkurve der Zubringerstrasse Aclas (2’765’803/1’169’622 CH1903+/LV95). Der Startpunkt ist sowohl in der topografischen Übersichtskarte als auch in der Ablagerungspunktübersicht in Abbildung 1 ersichtlich.

 

 

Die Teststeine bestanden aus 46 kg schweren armierten, betonierten, würfelförmigen EOTA-Blöcken (European Organisation for Technical Assessment), dessen grössere Ausgaben als Normstein in Steinschlagnetztests benutzt werden. Im Zuge der durchgeführten Steinschlagexperimente erwiesen sich künstliche Steine gegenüber natürlichen Steinen als überlegen, einerseits, weil sie robuster fabriziert werden können und andererseits auch die Reproduktion des immer gleichen Steins erlauben.

Die Steine wurden mittels Sensoren, sogenannten StoneNodes, ausgerüstet, welche Rotationen bis 11 Umdrehungen pro Sekunde und Beschleunigungen bis zur 400-fachen Erdbeschleunigung messen können. Dadurch kann man direkt im Stein messen, wie stark ein Aufprall seine Rotation vermindert und wie hart diese Aufschläge sind. Mittels Quad konnten jeweils vier Steine gleichzeitig von der Haarnadelkurve an den Startpunkt gebracht werden. Von da wurden diese nacheinander losgelassen und am Ablagerungspunkt mittels hochgenauem GNSS-Empfänger eingemessen. Wenn nötig, wurden die Steine mittels Spillwinde bis zur Haarnadelkurve gezogen, um von da wieder mit dem Quad zum Startpunkt gefahren zu werden. Mit Filmaufnahmen vom Startpunkt aus, von der Haarnadelkurve und mittels einer Drohne versuchten wir, die Steinflugbahnen möglichst lange zu verfolgen. Keine dieser Varianten stellte sich jedoch als zufriedenstellend heraus.

Die Surava-Trilogie dargestellt in Abbildung 1 besteht demnach aus einem Experimentiertag vor dem forstlichen Eingriff, RF13 mit 41 Ablagerungspunkten (rot), einem Tag mit den liegenden Bäumen, RF14 mit 27 Ablagerungspunkten (weiss), und einem Tag nach Räumung der liegenden Stämme, RF15 mit 40 Ablagerungspunkten (blau). Der berechnete Mittelpunkt der jeweiligen Serien ist als gleichfarbiges Fadenkreuz dargestellt. Wenig überraschend kommen Steine bei liegenden Stämmen am wenigsten weit. Der durchschnittliche Ablagerungspunkt liegt mitten in der Schlagfläche. Nur einer der 27 Steine kam unterhalb der liegenden Stämme zum Stillstand. Steine im geräumten Wald haben im Mittel einen 12 Meter längeren Weg zurückgelegt, als jene im ursprünglichen stehenden Wald. Ebenfalls klar ersichtlich sind die früh gestoppten Steine in allen drei Serien, welche aufgrund der Bodenrauigkeit nie Fahrt aufnehmen konnten.

Um diese Bodenrauigkeit möglichst genau abzubilden, bedarf es eines detaillierten Höhenmodelles. Das Bundesamt für Landestopografie swisstopo erstellt schweizweit die swissALTI3D-Höhenmodelle mit einer Gitterauflösung von zwei Metern. Mit fortschreitender Lasertechnologie sind die neusten Modelle bis 0,5 Meter Genauigkeit erhältlich. Trotzdem ergeben sich speziell im Wald immer noch zwei Hauptprobleme: Um die kleinräumige Rauigkeit von Waldböden korrekt darzustellen, braucht es sehr gute Vegetationsfilter, welche in der Lage sind, in der gesamten Masse an Laser-Messpunkten, der sogenannten LiDAR-Punktwolke (siehe z. B. Abb. 2.a), hochstämmige Vegetation von tief liegender Buschvegetation und beides wiederum von rauem Boden zu unterscheiden.

 

 

 Nur dann ergeben sich präzise digitale Höhenmodelle (DHM). Im idealen Fall sind dann auch Informationen über Deckungsgrad, Einzelbaumstandort, Baumhöhen vorhanden. Mit der neusten Generation der LiDAR-Daten, welche im Jahre 2023 von swisstopo für den ganzen Kanton Graubünden bereitgestellt werden sollten, könnte dies schon bald Realität werden. Trotzdem bleibt die Frage, was die kleinste Auflösung dieser Höhenmodelle sein wird, da auch 0,5 Meter für solch kleinskalige Experimente – die zugegebenermassen etwas akademisch sind und vor allem der Weiterentwicklung der Methoden dienen – unzureichend sind.

Erste Simulationen mit RAMMS::ROCKFALL mit einer Zwei-Meter-Auflösung im Höhenmodell zeigten, dass eine zu geringe Auflösung zu einer zu geringen Bremswirkung führt und die Steine oftmals erst weiter unten im Hang auf der flachen Forststrasse zum Stoppen kommen. Daher liessen wir den Hang mittels Hubschrauber per AX60-Trimble-Laserscanner vermessen. Um die gewünschte Punktdichte pro Quadratmeter (durchschnittlich 500 p/m²) zu erreichen, waren mehrere überlappende Flugstreifen notwendig. Nur so war es möglich, ein hochaufgelöstes Höhenmodell aus den LiDAR-Daten zu extrahieren. Der Detailgrad an Informationen eines solchen Höhenmodells ist in Abbildung 2 ersichtlich. Es ist nun nicht nur möglich, ein digitales Höhenmodell mit einer 20-Zentimeter-Auflösung zu generieren, sondern auch via Filteralgorithmen die wirklichen Bodenpunkte zu klassieren (Abb. 2b), Baumhöhen (Abb. 2c) und digital sogar Brusthöhendurchmesser (BHD) und Kronenlängen abzuschätzen (Abb. 2d).

Dieses Höhenmodel wird nun als Grundlage für Simulationen mit RAMMS::ROCKFALL benutzt. Die Simulationsresultate (Abbildung 3) werden mit den Experimenten verglichen.

 

 

Die Bremswirkung der liegenden Stämme, die als zusätzliche 3D-Objekte in der Berechnung eingefügt wurden, ist in der Bildmitte deutlich erkennbar. Dass die liegenden Stämme teilweise aufeinandergestapelt waren, ist in der 3D-Darstellung in Abbildung 4 deutlich zu erkennen.

 

 

Die darauf ebenfalls abgebildeten Sprunghöhen (max. 1,4 m) passen sehr gut zu den maximal im Feld gemessenen Sprunghöhen von 1,3 m. Generell erreichen wir eine gute Übereinstimmung zwischen Experiment und Simulation.

Die Experimente in Surava haben aufgezeigt, wo sowohl die logistischen wie auch konzeptionellen Schwierigkeiten von Steinschlagexperimenten im Wald liegen. Eine realistische Simulation ist nur möglich, wenn die naturgegebenen Randbedingungen möglichst genau ins Modell einfliessen. Zukünftige Arbeiten werden untersuchen, wie stark man zum Beispiel die Rauigkeit glätten kann, um noch aussagekräftige Resultate zu erhalten, oder wie diese künstlich erzeugt werden kann, falls das Höhenmodell nicht diese Genauigkeit aufweisen sollte. Weiterführende Experimente im Wald mit liegendem Totholz und grösseren Steinen sollen zudem Antworten darauf liefern, ob dieses im Wald belassen werden sollte, um eine möglichst effiziente Schutzwirkung und Pflege des Waldes zu erreichen.

 

Andrin Caviezel und Adrian Ringenbach: Ein Physiker und ein Geograf, die im Namen der Wissenschaft Steine den Hang hinunterwerfen.