Tel. 081 300 22 44  | info@buendnerwald.ch

 

"Bündnerwald" Dezember 2021

Im Mittelpunkt stehen die Betroffenen

Die Gemeinde Albula/Alvra hat zusammen mit dem Kanton Graubünden eine umfangreiche Vorsorgeorganisation gegründet, um die Betroffenen des Brienzer Rutschs zu unterstützen. Gemeindepräsident Daniel Albertin spricht über die Herausforderungen für die Gemeinde und den Fokus der Organisation auf die Betroffenen. Autor: Christian Gartmann

Der Rundgang durch Brienz/Brinzauls beginnt beim Schulhaus. Hier, am Dorfausgang Richtung Vazerol, starrt der Brienzer Rutsch einen förmlich an. Die Südflanke des Piz Linard hinter dem Dorf ist eine riesige Geröllhalde. Wenn hoch über dem Dorf Felsblöcke abbrechen und in die steile Halde stürzen, wird die Kantonsstrasse nach Lantsch/Lenz automatisch gesperrt: Eine Radaranlage überwacht jede Bewegung im Hang und stellt eine Ampelanlage auf Rot.

«Die allermeisten Blöcke zerbersten beim Absturz», beruhigt Gemeindepräsident Daniel Albertin (50) seine Besucher, eine Westschweizer Journalistin und ihren Fotografen. Albertin macht die Führung durch das Dorf immer wieder. Es sind vor allem Medienleute, Geologen und Experteninnen für Naturgefahren, denen er Brienz/Brinzauls und die Folgen des Brienzer Rutschs zeigt.

Auf den ersten Blick sieht man Brienz/Brinzauls den Rutsch fast gar nicht an. Das Dorf wirkt gepflegt, die allermeisten Häuser sind bewohnt und die Strassen sauber. «Die Schäden sind unter der Oberfläche», weiss Daniel Albertin.

Die Störungsequipe seiner technischen Betriebe rückt immer wieder aus, wenn Wasserleitungen bersten. Hausbesitzer merken, dass sich Risse bilden und an manchen Orten muss die Strasse immer wieder geflickt werden.

«Häuser, Leitungen und Strassen kann man sanieren», sagt Albertin. Es sind vor allem die Menschen in Brienz/Brinzauls, die ihn beschäftigen. Die Menschen hier reagieren sehr unterschiedlich auf den Brienzer Rutsch. Es gibt solche, die am liebsten morgen schon umziehen würden und andere, die von dem Thema nichts mehr hören wollen. «Angst haben vermutlich die wenigsten von ihnen, aber es ist für viele eine grosse wirtschaftliche Sorge und es geht um ihr Dorf. Da ist viel Emotion mit im Spiel», erzählt Albertin.

Die Gemeinde tut viel, um den Kontakt mit den Betroffenen zu halten. Da hilft es zwar, dass hier fast jede jeden kennt, aber Daniel Albertin schränkt ein: «Die Leute brauchen Möglichkeiten, um über konkrete Probleme zu reden. Nur so können wir ihre Bedürfnisse kennenlernen und ihnen auch helfen.» So wurden schon mehrere Umfragen für die Betroffenen zu konkreten Themen gemacht und der Gemeindepräsident führt regelmässig persönliche Gespräche mit Bewohnerinnen, Bewohnern und Besitzern von Ferienwohnungen und -häusern.

Zusammen mit dem Kanton hat die Gemeinde eine umfangreiche Vorsorgeorganisation aufgestellt. Hier arbeiten Einheimische und Mitarbeitende der Gemeinde Hand in Hand mit Fachleuten von zahlreichen kantonalen Stellen und Expertinnen aus der Privatwirtschaft und Wissenschaft zusammen. Ganz oben im Organigramm steht der Gemeindepräsident und nicht etwa ein Regierungsrat.

«Die Gemeinde hat die Verantwortung und sitzt auch am Steuer», bestätigt Daniel Albertin. Die Aufgaben sind sehr gross, sehr vielfältig und kosten sehr viel Geld. «Jemand muss am Ende die Verantwortung tragen. Der Gemeindevorstand lässt sich zwar von Fachleuten beraten und legt die Kredite regelmässig der Gemeindeversammlung vor, aber ob wir alles richtig machen, wird am Ende nur die Geschichte zeigen.»

Die Zusammenarbeit mit dem Kanton laufe sehr gut, sagt Albertin zufrieden. «Der Kanton hat grossen Respekt vor der Gemeindeautonomie und schätzt auch die Verantwortung, die wir übernehmen. Egal, mit wem wir zu tun haben, wir arbeiten auf Augenhöhe zusammen.»

Der Posten des Gemeindepräsidenten von Albula/Alvra ist mit 50 Stellenprozenten dotiert. Albertin lächelt: «Als Landwirt bin ich mich lange Tage gewohnt. Und irgendwie habe ich es mit dem Betrieb und den Aufgaben für die Gemeinde noch immer auf die Reihe bekommen.» Mehr Sorgen als seine Arbeitszeit macht ihm, dass die anderen Fraktionen seiner Gemeinde sich benachteiligt fühlen könnten. Albula/Alvra ist eine Fusionsgemeinde, die 2015 aus den sieben Gemeinden Alvaneu, Alvaschein, Brienz/Brinzauls, Mon, Stierva, Surava und Tiefencastel entstanden ist.

Als Albertin 2015 Gemeindepräsident aller sieben Fraktionen wurde, dachte er vor allem an die Integration der neuen Gemeinde. Aus den sieben unterschiedlichen Fraktionen muss etwas Ganzes entstehen können. Dabei gilt es auch, die Geschichten, die Bedürfnisse und Befindlichkeiten in den einzelnen Fraktionen zu kennen und zu beachten. 2018 begann der Brienzer Rutsch unvermittelt, sich markant zu beschleunigen. «Und heute hat man vor lauter Brienzer Rutsch manchmal das Gefühl, wir hätten sonst keine Aufgaben zu lösen.»

In den Informationsveranstaltungen und Gemeindeversammlungen betont der Gemeindepräsident denn auch immer wieder, dass die Gemeinde für alle sieben Fraktionen da sei und dass die Solidarität, welche die 1300 Einwohnenenden mit den knapp 80 Brienzer und Brienzerinnen zeigen, keine Selbstverständlichkeit sei. «Die Solidarität ist das Fundament für alles, was wir tun. Die zahlreichen Teilprojekte zum Brienzer Rutsch müssen von der Bevölkerung der gesamten Gemeinde mitgetragen werden.»

Zwar finanzieren der Kanton und der Bund von den meisten Massnahmen 90 Prozent und an den verbleibenden 10 Prozent beteiligen sich auch Infrastrukturbesitzer wie die Rhätische Bahn, Swissgrid oder die Swisscom, aber die finanzielle Belastung ist für die Gemeinde dennoch spürbar. Albertin und seine KollegInnen im Gemeindevorstand haben immer ein Auge auf die Finanzlage und damit auch die Finanzierung der anderen Aufgaben der Gemeinde. «Wenn eines deiner Kinder ein Problem hat, kümmerst du dich darum. Das heisst aber nicht, dass du deshalb deine anderen Kinder vergisst», fasst er zusammen.

Dreieinhalb Jahre nachdem der Rutsch sich zu beschleunigen begann, haben die Bauarbeiten an einem Sondierstollen unter die Rutschung begonnen. Bis es so weit war, mussten zwölf Sondierbohrungen, seismische, hydrogeologische und geoelektrische Untersuchungen den Untergrund erkunden und ein Projekt- und Bewilligungsverfahren in Rekordzeit durchlaufen werden. Nun wird der Stollen gebaut, der für viele hier der Hoffnungsträger ist. Gelingt es, über den Stollen den Berg zu entwässern und die Rutschung so zu beruhigen, kann Brienz/Brinzauls noch für viele Generationen ein Zuhause bieten.

«Wenn die Rutschung aber so weitergeht oder sogar noch zunimmt, muss man damit rechnen, dass die Häuser, Leitungen und Strassen irgendwann so beschädigt werden, dass das Dorf nicht mehr bewohnbar ist», ist sich Albertin bewusst. «Das ist keine schöne Aussicht, aber wir müssen den Leuten hier reinen Wein einschenken und aufzeigen, welche Risiken die Rutschung mit sich bringt.

Die Gemeinde hat denn auch eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die Vorabklärungen für eine mögliche Umsiedlung macht. Diese hat als Erstes die Bedürfnisse und Wünsche der Bevölkerung abgeholt. Danach wurden mögliche Umsiedlungsstandorte präsentiert, die innerhalb der Gemeinde zur Verfügung stünden. Das Echo war sehr geteilt, denn die von den Brienzer und Brienzerinnen bevorzugte Fraktion Vazerol, die auf der Sonnenterrasse gleich neben Brienz/Brinzauls liegt, kommt wegen der Gefahrenlage im Moment nicht als Umsiedlungsstandort infrage.

Die Umsiedlungsfrage ist die wohl komplexeste, mit der sich die Gemeinde und der Kanton befassen müssen. Weil so viele Fachgebiete involviert sind, besteht die Gefahr, dass am Ende eine Expertenlösung präsentiert wird, die an den Bedürfnissen der Betroffenen vorbeizielt. «Im Zentrum von allem, was wir tun, stehen immer die Betroffenen», betont Albertin dazu. «Eine solche Umsiedlungsplanung ist nicht einfach eine Trockenübung für Geologen, Raumplanerinnen und Verwaltungsjuristen. Hier geht es darum, die Folgen abzuschätzen, falls Menschen ihr Dorf und damit die Heimat ihrer Familie verlassen müssten.» Die Arbeit wird ihm und seinem Team wohl nicht so schnell ausgehen.

 

Christian Gartmann (56) berät Gemeinden, kantonale Stellen und Unternehmen in Krisenmanagement und Krisenkommunikation.

 

Informationen zum Brienzer Rutsch

 

24. Bulletin vom 12. November 2021

www.brienzer-rutsch.ch

 

Rutschung Berg

In der Rutschung Berg zeigte sich in den letzten Wochen eine leichte Entspannung der Lage. Die Geschwindigkeiten liegen insgesamt auf hohem Niveau mit einem abnehmenden Trend; dies vor allem in den schnellen Bereichen (West, Insel und Front).

Die Niederschläge und Schneefälle der vergangenen Tage haben nun jedoch diesen Trend durchbrochen und es wird wieder eine Beschleunigung in diesen Bereichen beobachtet. Die Niederschläge führten zu einer Zunahme der Stein- und Blockschlagaktivität im Gebiet.

 

Rutschung Dorf

Im Bereich der Rutschung Dorf zeigen die gemessenen Geschwindigkeiten eine leichte Abnahme. Die Geschwindigkeit beim Messhäuschen im Dorf liegt aktuell bei circa 1,40 m pro Jahr.

 

Prognose

Mit Einsetzen der kälteren Temperaturen und den ersten Schneefällen im Gebiet ist mit neuen Geschwindigkeitszunahmen und Blockschlägen aus der Rutschung Berg zu rechnen.

 

Bau des Sondierstollens

Der Bau des Sondierstollens unter dem Brienzer Rutsch kommt gut voran. Nach der ersten Sprengung am 20. September stiessen die Mineure rasch in festen Fels vor. «Die Geologie ist wie erwartet, wir schaffen pro Woche rund 25 Meter», sagt Bauleiter Ivan Degiacomi vom Tiefbauamt Graubünden. Montag bis Donnerstag wird jeweils gesprengt und abgeräumt, am Freitag wird die Sohle (der Boden) des Stollens betoniert.

 

Pro Abschlag (Sprengung) wird der Stollen um drei Meter länger. Nach dem Räumen des Ausbruchs werden dann alle eineinhalb Meter Anker ins Tunnelgewölbe gebohrt, um es zu sichern. Anschliessend wird der Fels mit zwei Schichten Spritzbeton verkleidet. Bis jetzt ist der Stollen gut 160 Meter lang, am Ende sollen es 650 Meter werden.

 

Sie können das monatliche Bulletin zum Brienzer Rutsch auch abonnieren. Sie erhalten es dann per E-Mail: www.brienzer-rutsch.ch

Sondierstollen Brienz/ Brizauls

Zahlen und Fakten

Ziele

– Erkundung der geologisch-hydrogeologischen Verhältnisse des stabilen, anstehenden Gebirges unterhalb der Rutschung Dorf sowie der Rutschmasse selbst

– Beurteilung der Drainierbarkeit mittels Tiefenentwässerung

– räumliche und zeitliche Erfassung inkl. messtechnischem Nachweis des Wirkungsradius und des Wirkungsgrads einer allfälligen Gebirgsdrainage (Überwachungsdispositiv)

 

Zahlen und Fakten

– Länge: 635 m

– Querschnitt: Hufeisenprofil, Gesamthöhe 4,81 m, Ausbruchquerschnitt 17 m²

– Ausbruchvolumen: ca. 22 000 m³

– 6 Drainagebohrungen (75–100 m), 4 Sondierbohrungen (50–100 m), 2 Überwachungsbohrungen (100 m)

– Bauphase: Mai 2021 bis November 2022

– Projektkosten: 13,8 Mio. Franken (gemäss KV)

(Angaben Ziele, Zahlen und Fakten zum Sondierstollen zur Beurteilung der Wirksamkeit einer Tiefenentwässerung mittels Entwässerungsstollen: Bauprojekt Amberg Engineering 2020)

 

 

 

 

 

 

 

Ein Blick in den Berg

Das Dorf Brienz/Brinzauls rutscht momentan mit etwa 1,5 m pro Jahr talwärts Richtung Albula. Zudem besteht eine Gefährdung durch Stein-/Blockschlag- und mögliche Berg-/Felssturzereignisse. Die gegenwärtige Entwicklung in Brienz/Brinzauls ist für Bewohner, Versorgungs- und Infrastrukturbetreiber nicht mehr tragbar und verlangt nach Massnahmen, welche eine möglichst rasche und lang anhaltende Verbesserung der Situation bringen. Autoren: Thomas Breitenmoser, Reto Thöny und Daniel Figi

1. Einleitung

Die gesamte Südflanke des Piz Linard bis zum Fluss Albula ist von geomorphologischen Phänomenen und Prozessen einer tiefgründigen Grosshangbewegung geprägt. Der ausbauchende Hangbereich unterhalb von etwa 1200 m ü. M., auf dem das Dorf Brienz/Brinzauls liegt, wird als Rutschung Dorf bezeichnet und die Felswände und Ausbruchnischen oberhalb des Dorfs bis ins Gebiet Pro Fop auf etwa 1800 m ü. M. als Rutschung Berg (Abb. 1).

Die geologische Entstehungsgeschichte, der im Gebiet der Rutschung Brienz auftretenden Gesteine, ist komplex und charakterisiert durch mehrere, übereinander geschobene tektonische Decken. Generell liegen in der Südflanke des Piz Linard gut durchlässige, grob geklüftete Kalke und Dolomite der Vallatscha-Formation sowie Rauwacken der Mingèr-Formation (Silvretta-Decke) über gering durchlässigen, sandig-kalkigen Tonschiefern der Allgäu-Formation (Arosa-Decke) und des Flysch (Tomül-Decke).

In der Südflanke des Piz Linard wird einzig das Gebiet östlich der Rutschung Brienz bis in mittlere Höhenlängen durch permanent wasserführende Fliessgewässer entwässert. In den Gebieten oberhalb und westlich der Rutschung findet keine oberflächliche Entwässerung statt. Quellaustritte finden sich vorwiegend in tiefen Höhenlagen unterhalb von 1200 m ü. M. sowie vereinzelt im Gebiet der Brienzer Maiensässe (ca. 1800 m ü. M.) oberhalb der Rutschung. Die zwischen Surava und Tiefencastel durch die Rutschung Brienz gegen Süden abgedrängte Albula bildet den Vorfluter. Im Bereich der Rutschung selbst sind die hydrogeologischen Verhältnisse infolge der grossen Geländedeformationen und der sich dadurch stetig ändernden Oberflächenbeschaffenheit und Fliesswege äusserst komplex ausgebildet.

 

Geologische Detailuntersuchungen

1. 1. Untersuchungsziele

Die geologischen Detailuntersuchungen haben zum Ziel, den geologischen Aufbau, die hydrogeologischen Verhältnisse und die Bewegungsmechanismen der Rutschung Brienz zu verstehen und in einem repräsentativen, geologisch-kinematischen und hydrogeologischen Modell zusammenzufassen. Dieses Modell der Rutschung Brienz soll als Grundlage dienen, um geeignete Massnahmen zur Sanierung, d. h. einer Verlangsamung der Bewegungsgeschwindigkeiten auf weniger als 10 cm/Jahr, zu planen und in einer nächsten Projektphase auch erfolgreich realisieren zu können.

 

1. 2. Angewandte Untersuchungsmethoden

Zur geologischen Erkundung des Untergrunds im Gebiet der Rutschung Brienz gelangte eine Vielzahl von Untersuchungsmethoden zur Anwendung.

Anfänglich beschränkten sich die Detailuntersuchungen auf die Rutschung Dorf. Zwischen Herbst 2018 und Herbst 2019 wurden sechs Sondierbohrungen auf der Rutschung Dorf und eine weitere im westlichen Übergangsbereich zwischen den Rutschungen Dorf und Berg erstellt (Abb. 1).

Die ersten Resultate aus diesen geologischen Erkundungen im Gebiet Dorf haben gezeigt, dass für das Gesamtverständnis der Rutschung auch Sondierungen auf der Rutschung Berg unabdingbar sind. So wurden die geologischen Detailuntersuchungen Anfang 2020 auf die Rutschung Berg ausgeweitet. Im Sommer 2020 wurden auf der Rutschung Berg drei weitere Sondierbohrungen erstellt und im Frühjahr 2021 eine letzte im östlichen Übergangsbereich Dorf/Berg auf dem Schuttstrom Igl Rutsch.

Ergänzend wurden 2018 und 2019 auf dem Gebiet der Rutschung Dorf geophysikalische Erkundungskampagnen ausgeführt. Verteilt auf fünf Profile zwischen den Sondierbohrungen wurden insgesamt fast 9 km seismische und geoelektrische Profillinien erstellt und ausgewertet.

Zur Erfassung von hydrogeologischen Daten und zur Klärung der Frage, welche Rolle das Wasser bei der Rutschung Brienz spielt, wurden zu Beginn der Detailuntersuchungen unter anderem ein Quellenkataster erstellt, monatliche Quellmessungen, Markierversuche sowie chemische und Isotopen-Analysen an Wasserproben durchgeführt.

 

1. 3. Sondierbohrungen

Im Gebiet der Rutschung Dorf wurden sechs Sondierbohrungen zwischen 80 und 206 m Tiefe (KB1/18 bis KB6/19) abgeteuft. Im Übergangsbereich Dorf/Berg folgten zwei Sondierbohrungen von 218 m (KB8/19 im Westen) und 107 m (KB12/21 im Osten) Tiefe. Auf der Rutschung Berg wurden drei Sondierbohrungen von 215 m bis 341 m Tiefe (KB9/20 bis KB11/20) erstellt (Abb. 1 und Abb. 3).

Die meisten Bohrungen wurden mit Inklinometermessrohren für Bewegungs-/Deformationsmessungen und Porenwasserdruckgebern für Wasserspiegelmessungen ausgerüstet. Ergänzend oder als Redundanz zu den Inklinometern wurden in vereinzelte Bohrungen weitere Messinstrumente eingebaut (Glasfaser-, TDR-, Temperaturmesskabel).

Aufgrund der aussergewöhnlich hohen Rutschbewegungen (mm bis cm/Tag) war eine erfolgreiche Durchführung der Bohrungen technisch äusserst anspruchsvoll und erforderte einen grossen Einsatz sowie ein hohes Mass an Flexibilität aller Beteiligten.

 

1. 4. Geophysik

Die Profillinien der Seismik und Geoelektrik wurden unter Berücksichtigung der Bohrstandorte so im Gebiet der Rutschung Dorf angeordnet, dass die Rutschmasse mit den seismischen und geoelektrischen Messungen möglichst gleichmässig und gesamthaft erfasst werden konnte.

Insbesondere die Seismik hat wichtige Angaben zum geologischen Aufbau des Untergrunds zwischen den einzelnen Sondierbohrungen geliefert. In Kombination mit den Befunden aus den Bohrungen ergibt sich ein recht genaues Bild der Rutschmasse sowie der Tiefenlage der Basisgleitfläche der Rutschung Dorf.

 

1. 5. Hydrogeologische Untersuchungen

Die hydrogeologischen Untersuchungen beinhalten das Erfassen aller in der Rutschung und deren näheren Umgebung vorhandenen Quellen, Oberflächengewässer und Drainageleitungen in einem Quellenkataster. Aus dem fast 70 Quellen umfassenden Quellenkataster wurden 22 Quellen für eine intensivere Überwachung bzw. Datenerfassung ausgewählt. Davon werden seit November 2018 bei 14 Quellen periodisch (monatlich) die Schüttmenge, Temperatur und elektrische Leitfähigkeit gemessen. Seit August 2019 werden dieselben Parameter bei 8 Quellen mit fest installierten Messeinrichtungen permanent aufgezeichnet. Die Quellmessungen, insbesondere die Schüttmengen, liefern wichtige Erkenntnisse zum Wasserhaushalt der Rutschung und den jahreszeitlichen Schwankungen des Wasserangebots.

Bei verschiedenen Quellen wurden Wasserproben entnommen und chemische sowie Isotopenanalysen durchgeführt. Mit den chemischen Analysen können die Quellen verschiedenen Wassertypen zugeordnet werden, was Rückschlüsse auf die Fliesswege im Untergrund zulässt. Die Isotopenanalysen liefern Informationen zur Höhenlage des Infiltrationsgebiets sowie Hinweise zu den Verweilzeiten des Wassers im Untergrund.

2019 und 2020 wurden an verschiedenen Stellen oberhalb, seitlich und innerhalb der Rutschung, teilweise auch in die bereits ausgeführten Sondierbohrungen, Markierstoffe eingegeben. Bei Quellaustritten im Gebiet der Rutschung Dorf wurden Proben entnommen und im Labor auf die eingegebenen Markierstoffe analysiert. Der Nachweis von Markierstoffen liefert wichtige Hinweise zu den Fliesswegen und den Fliesszeiten des Wassers im Untergrund. So wurde mit den Markierversuchen erkannt, dass aus dem Gebiet Plang Siz am nordwestlichen Rand der Rutschung im Untergrund Wasser in die Rutschmasse gelangt und sich dort ausbreitet.

Während dem Bohrfortschritt wurde insbesondere bei den Bohrungen der Rutschung Dorf erkannt, dass beim Durchbohren von internen und basalen Rutschhorizonten der Wasserspiegel im Bohrloch rasch und bis einige Zehnermeter angestiegen ist. Dies ist ein starker Hinweis, dass der Wasserspiegel im stabilen Gebirge unterhalb der Rutschung und teilweise auch innerhalb der Rutschmasse gespannt ist. Der Wasserdruck auf die basale Gleitfläche begünstigt die Rutschbewegungen ähnlich einem Luftkissen, das scheinbar leicht und schwerelos über dem Boden schwebt.

Mittels Datenanalyse eines schneehydrologischen Modells des SLF konnte gezeigt werden, dass die Rutschung Brienz vor allem dann beschleunigt, wenn in tiefen (Rutschung Dorf) und mittleren (Rutschung Berg) Höhenlagen der Schnee schmilzt, auch bei kurzzeitigen Wärmeeinbrüchen im Winter. Schmilzt der Schnee in höheren Lagen (oberhalb 2000 m ü. M.) hat dies keinen dominierenden Einfluss auf die Rutschgeschwindigkeiten. Stärkere Niederschlagsereignisse beschleunigen vor allem kurzzeitig die stark exponierten Felskompartimente im oberen Bereich der Rutschung Berg, haben aber auf die Bewegungen der Rutschung Dorf keinen messbaren Einfluss.

 

2. Geologisches Modell

2. 1. Geologischer Aufbau Rutschung Dorf

Der geologische Aufbau der Rutschung Dorf und des Übergangsbereichs Dorf/Berg ist vergleichbar und kann generell in Rutschmasse, basaler Rutschhorizont und stabiler Untergrund unterteilt werden.

Die Rutschmasse ist beim Dorf Brienz rund 150 m mächtig. Zu den seitlichen Rändern der Rutschung und zu deren Fuss Richtung Albula hin nimmt die Mächtigkeit der Rutschmasse deutlich ab und beträgt noch etwa 80 m im östlichen, 45 bis 65 m im westlichen Bereich sowie knapp 30 m am Fuss der Rutschung. Im Übergangsbereich zur Rutschung Berg beträgt die Mächtigkeit der Rutschmasse im Westen auf dem Felsrücken Caltgeras etwa 125 m und im östlichen Übergangsbereich noch knapp 22 m. Im östlichen Randbereich überlagert zudem der Igl Rutsch, ein Schuttstrom, der sich im Jahr 1878 ereignete, die Rutschung Brienz mit einer Mächtigkeit von etwa 20 m.

Der basale Rutschhorizont der Rutschung Dorf ist teils bis mehr als zehn Meter mächtig und besteht aus komplett entfestigtem, zu Silt und Ton zerriebenem Fels, der auch als Rutschbrekzie bezeichnet werden kann (Abb. 3a).

Der stabile Untergrund unterhalb von Rutschmasse und basalem Rutschhorizont besteht weitgehend aus anstehendem Fels (Abb. 3b). Eine Ausnahme bildet der Fussbereich der Rutschung. Hier wird der stabile Felsuntergrund von mehr als 100 m mächtigen, fluviatilen Ablagerungen der Albula überlagert. Diese Bachschuttablagerungen der Albula wurden von der Rutschmasse um ca. 300 m überfahren. Dabei hat die Rutschmasse den Flusslauf der Albula an den südlichen Talrand abgedrängt, wo sie heute fliesst.

 

2. 2. Geologischer Aufbau Rutschung Berg

Mit den drei auf der Rutschung Berg abgeteuften Sondierbohrungen konnten erfolgreich alle im Untersuchungsgebiet auftretenden und für die Rutschung Brienz relevanten geologischen Einheiten erbohrt werden. Im Anrissgebiet der Rutschung Berg verläuft der aktive basale Rutschhorizont in etwa 50 m Tiefe. Auf dem Rücken Caltgeras im westlichen Bereich der Rutschung verläuft die Basis der instabilen Felsmasse in einer Tiefe von etwa 183 m.

Im Vergleich zur Rutschung Dorf sind die Gesteine in den aktiven Bereichen der Rutschung Berg, insbesondere auch der basale Rutschhorizont, deutlich weniger stark zerlegt und mechanisch beansprucht. Der basale Rutschhorizont im Gebiet der Rutschung Berg entspricht zu Kies und Steinen zerbrochenem Gestein mit keinem bis sehr geringem Feinanteil. Die mechanische Beanspruchung der Gesteine ist bei der Rutschung Berg bislang vielleicht über eine Distanz von einigen Dekametern (1 Dekameter = 10 m) erfolgt. Bei der Rutschung Dorf hat die Rutschmasse, insbesondere im Frontbereich, eine Distanz von gegen 500 m erfahren und die Gesteine im aktiven Rutschhorizont mechanisch entsprechend stark zerrieben.

 

2. 3. Bewegungsmechanismen der Rutschung Brienz

Bei der Rutschung Dorf gibt es einen einzigen Bewegungsmechanismus, der als Gleiten oder Rutschen bezeichnet wird. Die Rutschmasse der Rutschung Dorf bewegt sich dabei entlang des basalen Rutschhorizontes en bloc Richtung Albula; d. h. die an der Geländeoberfläche gemessenen Bewegungen finden zum überwiegenden Teil an der Basisgleitfläche statt. Interne, sekundäre Gleitflächen sowie Kriechbewegungen treten nur lokal und stets untergeordnet auf.

Bei der Rutschung Berg können zwei Bewegungsmechanismen beobachtet werden, die sich auf verschiedene Rutschkompartimente verteilen. Einerseits gibt es im obersten Bereich der Rutschung Berg, auf dem Plateau, gleich wie bei der Rutschung Dorf ein Gleiten entlang einer basalen Gleitfläche. Als zweiten Bewegungsmechanismus gibt es auf dem Rücken von Caltgeras ein Kippen, das auch als Toppling oder Hakenwurf bezeichnet wird. Die bergwärts einfallenden Gesteinsschichten des Rückens von Caltgeras kippen nach vorne und bewegen sich so talwärts.

Die Kippbewegungen gehen im Übergangsbereich zur Rutschung Dorf wieder in ein Gleiten über (Abb. 4).

 

3. Prüfung von Sanierungsmassnahmen

Die geologischen und hydrogeologischen Detailuntersuchungen sind noch nicht abgeschlossen. Die der Rutschung Brienz zugrunde liegenden mechanischen und hydraulischen Prozesse und Einflussfaktoren sind noch nicht vollständig erkannt und verstanden. Aufgrund der bislang vorliegenden Erkenntnisse wird eine Tiefenentwässerung der Rutschung Brienz als Erfolg versprechendste Variante einer Sanierung eingeschätzt. So wurde infolge der durch die zunehmenden Bewegungsraten der Rutschung Dorf (aktuell bei ca. 1,5 m pro Jahr) gegebenen Dringlichkeit mit der Projektierung und dem Bau eines Sondierstollens zur Prüfung der Wirksamkeit einer solchen Tiefenentwässerung der Rutschung Brienz bereits vor Abschluss der geologischen Detailuntersuchungen begonnen. Der Vortrieb des Sondierstollens ist im September 2021 gestartet. Sein Bau ist mit der grossen Hoffnung verbunden, weitere entscheidende Erkenntnisse hinsichtlich einer Sanierung der Rutschung Brienz zu gewinnen.

 

Thomas Breitenmoser, Reto Thöny und Daniel Figi leiten bei der BTG Büro für Technische Geologie AG die seit 2018 laufenden geologischen Detailuntersuchungen zur Rutschung Brienz/Brinzauls. Sie geben hier einen Einblick in diese Arbeiten und erläutern erste Erkenntnisse daraus.

RSS - "Bündnerwald" Dezember 2021 abonnieren