Tel. 081 300 22 44  | info@buendnerwald.ch

 

Unaufgeräumte Wälder - Schutzwirkung vor Verbiss und Austrocknung

In den Wäldern von Untervaz dürfen verschiedene Massnahmen ausprobiert werden. Mit möglichst individuellen Holzschlägen und bewusstem Nicht-Aufräumen hat das Forstteam gute Erfahrungen gemacht. Ken Flury

Unaufgeräumte Wälder – Schutzwirkung vor Verbiss und Austrocknen

Frisch ab der Försterschule übernahm ich das Forst­revier Untervaz im Jahr 2018. Mein Wald zeigt sich vom Rhein in der Talebene bis zur Waldgrenze unter dem Calanda in vielen Facetten. Die sehr trockenen Standorte, wie der 40 M Gamander-Traubeneichenwald mit Bingelkraut oder der 65+ Hauhechel-Föhrenwald mit Niedriger Segge, fallen mit den vielen Dürrständer oberhalb des Dorfes markant auf. Die Veränderungen durch den Klimawandel sind, wie im Mittelland, in Untervaz bereits ersichtlich. Beim Erkunden meines Revieres habe ich einige Beobachtungen gemacht: Zum einen verhinderte der starke Wildverbiss eine Baumartenvielfalt bereits im Keimlingsstadium. Zum andern war der Sommerflieder auffällig viel im Wald vertreten. Vor allem wenn ein Baum umgekippt war, verjüngte sich der Sommerflieder auf dem frisch aufgerissenen Rohboden und breitete sich, einmal im Bestand Fuss gefasst, von dort im Wald aus. Ebenfalls sehr interessant war, dass in dem liegenden Kronenbereich von drei grossen gekippten Buchen, neben Buchen auch vier Spitzahorne ohne Verbiss heranwuchsen. Im Hitzesommer 2018 konnte ich beobachten, wie in den Holzschlägen die Verjüngung im Keimlings- und ­Dickungsalter flächig abgestorben waren. Einzig um die Asthaufen herum waren die Jungpflanzen noch grün. Der Boden war um die Haufen herum feucht, gleich daneben aber aufgerissen und trocken gewesen. Die nicht behandelten Käfernester haben sich nach einem Jahr nicht vergrössert, und die vitalen Fichtenbestände daneben sind verschont geblieben.

Alle diese Beobachtungen haben mich dazu gebracht, verschiedene Methoden auszuprobieren. Das Ziel war es, so viele Holzschläge so individuell wie möglich auszuführen. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass bei zehn Holzschlägen mit einheitlichen Seillinien und Eingriffen die punkto Klimaveränderung falschen Massnahmen getroffen werden. Wenn aber bei jedem Holzschlag etwas anderes ausprobiert wird und dann nur eine Massnahme wirklich nützt, wird aus meiner Sicht das Gesamtrisiko reduziert.

Wir haben angefangen, in den Holzschlägen die ganzen Kronen gezielt liegen zu lassen. Zuerst haben wir vor allem Laubhölzer und Weisstannen «abgegipfelt». Das Personal musste sich daran gewöhnen, dass ab der Schnittstelle kein Ast mehr verschnitten wird. Für sie war das kein schönes Bild. Sie waren sich gewöhnt, dass alle Kronenteile in kleine Stücke bodennah zersägt wurden. Ich musste ihnen viele Male aufzeigen, dass das Zersägen die Zeit und das Benzin nicht wert ist und es nur Kosten verursacht. Wir haben die Produktion von Hack- und Industrieholz auf ein Minimum reduziert. Dadurch haben sich die Rüstkosten gesenkt. Mit der Zeit haben wir begonnen, bei Verjüngungsansätzen Weisstannengipfel ungeastet parallel zueinander an den Strassen auszulegen. Es zeigte sich, dass dies einfache Wildschadenverhütungen waren, welche die Keimlinge ein paar Jahre vor Verbiss und Austrocknen schützten (siehe Foto).

Bewusst liegengelassene Kronen schützen Keimlinge, darunter auch Weisstannen, ein paar Jahre vor Verbiss und Austrocknung.

(Bild: Ken Flury)

Im Jahr 2020 hatte ich in einer aufgeforsteten Fläche mit Fichten im Baumholz 1 einen Vollernteeinsatz geplant. Der Holzschlag war angezeichnet, und die Gassen wurden markiert. Durch die schlechten Holzerlöse war der Eingriff so nicht tragbar. Ich habe mich dann dazu entschieden, den Holzschlag dennoch durchzuführen, denn die Dringlichkeit war hoch. Wir haben dann, ausserhalb der Gassen, den Holzschlag so ausgeführt, wie er angezeichnet war. Die Fichten wurden gefällt und grösstenteils vom Stammfuss bis 20  cm Durchmesser auf der Oberseite gestreift. Der obere Abschnitt ab 20 cm Durchmesser blieb unbehandelt und die Stämme blieben grösstenteils ganz. Die gefällten Bäume lagen mit den ganzen Kronen kreuz und quer (siehe Foto 1).

Mit dem Holzschlag im Baumholz 1 im 2020 konnte das Wild auf vier Wechsel kanalisiert werden,

was die Verbiss-Situation deutlich verbesserte.

(Bild: Ken Flury)

Dies führte dazu, dass die örtlichen Jäger sehr negativ über diesen Eingriff sprachen, denn aus ihrer Sicht konnte sich das Wild nicht mehr frei bewegen und würde sich in diesem Bestand nicht mehr aufhalten. Ich sprach mit einigen von ihnen, sie sollen noch ein wenig warten, da sich neue Wildwechsel ergeben würden, und dann könne man diese mit wenig Aufwand freistellen. Nach einem halben Jahr haben sich aus vielen beliebigen Wildwechseln vier neue ergeben. Diese vier Wege konnten die Jäger dann gezielt freistellen und die Posten darauf richten. Die Wechsel habe ich mit einer Wildkamera beobachtet und festgestellt, dass sie stark genutzt wurden. Seit der Holzerei musste sich das Wild auf den Wechseln bewegen und konnte nicht mehr, wie vor dem Eingriff, überall durch den Bestand gehen. Dies zeigte sich auch in der Verbiss-Situation. Im ganzen Bestand konnten Keimlinge heranwachsen, genau die, die nicht erreicht werden können, sind bis jetzt noch nicht verbissen worden. Der Käfer hat begonnen, die liegenden Bäume zu befallen, auf die stehenden ist er jedoch nicht übergegangen.

Letztes Jahr haben wir in einem Bestand im Baumholz 1 eine Seillinie im Ganzbaumverfahren durchgeführt. Der Bestand wurde aufgeräumt, und es liegen nach dem Eingriff fast keine Äste oder Stämme auf dem Waldboden. Parallel zu diesem Holzschlag hatten wir ein Jahr zuvor im gleichen Bestand nur Zukunftsbäume im Endabstand freigestellt, aber alles ungeastet und nicht gestreift liegen gelassen. Die Seillinie wird nun von den Jägern als Schussschneise mit drei Hochsitzen genutzt. Das Wild kann durch die liegenden Stämme im danebenliegenden Bestand nur an wenigen Stellen auf die offene Fläche treten. Der «saubere» Holzschlag wird von der Bevölkerung auch als Fussweg genutzt. Erstaunlicherweise kamen nur negative sowie auch positive Rückmeldungen zum Holzschlag mit der Seillinie, nicht aber zum anderen.

Vor allem bei der älteren Generation stösst dieses Unaufgeräumte direkt an den Wegen auf Unverständnis. Wir haben zwar gezielt Infotafeln aufgestellt. Doch ich musste feststellen, dass wenn ich mit den Leuten direkt reden konnte, sie viel mehr verstanden haben, was ich mit den Massnahmen bezwecken möchte. Ich denke, es ist wichtig, dass sie uns verstehen und nicht, dass ich sie belehre.

Der Bevölkerung ist oft nicht bewusst, was Totholz bewirkt. Darum ist es wichtig, ihnen Beispiele vor Ort zu zeigen. Sie müssen sehen, wie der Wald eigentlich aussehen sollte und was naturnaher Waldbau bedeutet. Bei einer Begehung für eine Wasserfassung wurde ich von einem kritischen Bürger darauf angesprochen, dass hier in diesem abgelegenen Waldgebiet dringend aufgeräumt werden müsse, da das Holz am Boden am Verfaulen sei. Es lagen überall sehr grosse Stämme am Boden, und rundherum war Adlerfarn vertreten. Ich konnte ihm zeigen, wie sich auf den morschen Stämmen Keimlinge entwickelten und daneben nichts ausser dem Farn wuchs. So konnte ich ihm sehr gut in seinem Lieblingswald, der in der Zerfallsphase war, den Nutzen von Totholz aufzeigen. Er hat das so noch nie betrachtet und ist seitdem überzeugt, dass das Totholz wichtig ist. Zudem hat er auch andere kritische Fragen selbst neu überdenken müssen.

Mir wurde immer gesagt, ich soll doch die «liegen gelassenen» Holzschläge nicht direkt an der Strasse machen, damit es nicht so unaufgeräumt aussieht und sich die Leute nicht darüber ärgern. Doch ich denke, das ist falsch. Die Bevölkerung muss sehen, wie der Wald auch fern von Wegen und Strassen aussieht. Sie müssen mit Holzschlägen, Tafeln und Gesprächen aufgeklärt werden. So wird über den Wald gesprochen. Die Klimaerwärmung und der Wildverbiss sind so wichtig, dass sie immer und zu jeder Zeit erwähnt werden müssen.

Im 2022 führte das Forstteam, ebenfalls im Baumholz 1, einen Holzschlag mit einer Seillinie im Ganzbaumverfahren aus.

Direkt daneben wurden 2021 nur die Zukunftsbäume freigestellt.

(Bild: Louis Kunz)

Die Gemeinde Untervaz führte im Mai 2022 einen Zukunftstag durch, an dem die Bevölkerung über sieben aktuelle Themen in der Gemeinde informiert wurde. Ein Thema war die Bewirtschaftung des Waldes unter den herrschenden Rahmenbedingungen. Dabei ergab sich die Gelegenheit, mit sehr vielen Leuten im direkten Gespräch über die Bewirtschaftung der Untervazer Wälder zu diskutieren. So konnte an diesem Zukunftstag auch die Zufriedenheit in der Bevölkerung mit der Bewirtschaftung der Wälder abgefragt werden. Die grosse Mehrheit war zufrieden. Der starke Wildverbiss und dass sich der Wald dem Klimawandel anpassen muss, war fast allen bewusst. Ich habe gemerkt, dass bei mir im Revier sehr viele mit dieser Wildnis zufrieden sind.

Am Untervazer Zukunftstag vom Mai 2022 konnte der Betriebsleiter Ken Flury

den Jungjägern die Massnahmen im Wald persönlich erklären.

(Bild: Gemeinde Untervaz)

Wichtig ist, dass die Massnahmen auf den Schutzwald ausgerichtet sind. Meines Erachtens können die Massnahmen in den Holzschlägen, bei denen das Holz liegen gelassen wird, viel gezielter und effizienter ausgeführt werden. Es ist einfacher, Einzelbäume freizustellen, ohne grossen Schaden anzurichten.

Die Forstgruppe erkennt selbst, dass nun viel weniger Sommerflieder in den Holzschlägen wächst, und dass die liegenden Bäume und Kronen ihre Wirkung haben. Sie probieren immer wieder etwas aus oder fällen gezielt Baumkronen in den Anwuchs, sodass dieser für ein paar Jahre geschützt ist.

Wir sind in einem grossen Wandel. Niemand weiss, was das Richtige ist. Ich werde weiterhin vieles ausprobieren und mich nicht auf einheitliche Massnahmen fixieren. Für mich ist es wichtig, dass jede und jeder weiss, dass wir in der Zukunft mit diesem Wilddruck keinen klimafitten Wald haben werden und ich dies nicht ändern kann. Ich kann nur meinen forstlichen Teil dazu beitragen.

 

Ken Flury ist Förster und Betriebsleiter des Gemeindebetriebs Untervaz mit insgesamt sieben Mitarbeitenden.