Für die Besuchenden des Schweizerischen Nationalparks prägen die Legföhre und die aufrechte Bergföhre auf gut drei Vierteln der Waldfläche das Waldbild. 44 Prozent sind praktisch reine Bergföhrenwälder. Die beiden Unterarten derselben Art (Pinus mugo Turra) wachsen in reinen Beständen, wo andere Gehölze nicht gedeihen können, sei es wegen grosser Höhenlage, kurzer Vegetationszeit, ausgeprägter Trockenheit im Sommer, basischem Kalk- oder Dolomitgestein oder wegen fehlender oder geringer Bodenbildung auf Geröll und Fels. Ihre Samen verfügen über einen Flügel und werden vom Wind verfrachtet. Die schweren Samen der Arve werden hingegen durch den Tannenhäher aktiv verbreitet. Wo an steilen Hängen der Schneedruck, Lawinen, Bewegungen der Erdoberfläche und Steinschlag keinen aufrechten Baumwuchs zulassen, wächst von den Nadelgehölzen dauerhaft nur die Legföhre (Abbildung 1). Der niederliegende, strauchartige Baum wächst bis zu fünf Metern hoch. In dichten, oft schwer durchdringlichen Beständen übersteht er Steinschlag, die vollständige Überdeckung mit Schnee und auch alljährliche Lawinenabgänge.
Abb. 1: Einzelne Legföhren im Vordergrund, Legföhrenbestand im Hintergrund am Steilhang. (Foto: SNP)
Die Bergföhre – ein Extremist
Auf ruhigeren Flächen wachsen unter diesen sehr kargen Lebensbedingungen zwischen 1600 und ca. 2400 m ü. M. die aufrechte Bergföhre mit Baumhöhen bis 25 m (Abbildung 2). Sie bildet im Nationalpark und im angrenzenden Spöltal sowie in Mittelbünden (Albulatal, Landwassertal) die grössten Bestände der Schweiz (LFI). Unter den schlanken Bäumen wachsen südexponiert die Erika, Niedrige Segge und Preiselbeere (Erika-Bergföhrenwald) oder in anderen Expositionen Preisel-, Heidel- und Moosbeeren, die bewimperte Alpenrose sowie die Bärentraube und Moose (Steinrosen-Bergföhrenwald). Die aufrechte Bergföhre besiedelt als Pionierin sehr schnell frisch entstandene, basenreiche Schotterflächen an Bachrändern und auf Ablagerungen von Rüfen (Abbildung 3).
Abb. 2: Bestand der aufrechten Bergföhre mit Totholz im Schweizerischen Nationalpark. (Foto: SNP)
Der Bergföhrenwald geht im Nationalpark mit abnehmender Extremheit der Standortbedingungen in andere Nadelwaldbestände über: Zur Waldföhre, wo die Höhenlage abnimmt und damit die Temperatur und die Vegetationszeit zunehmen, zur Arve, wo die Bodenbildung mit einer sauren Rohhumusauflage auf Fels und Geröll weiter fortgeschritten ist und zur Fichte, wo der Boden auf etwas geringerer Höhenlage im Sommer weniger austrocknet. Die Lärche gesellt sich da und dort einzeln zur Bergföhre, oder auch in grösserer Zahl, wo die Kargheit weniger ausgeprägt ist. Die Lärche ist in den Bergföhrenwäldern die zweithäufigste Baumart.
Abb. 3: Die aufrechte Bergföhre besiedelt frischen, rohen Schotter sehr schnell und flächendeckend. (Foto: Duri Bezzola)
Zwischen aufrechter Bergföhre und Legföhre bestehen lokale Zwischenformen und Hybriden, wodurch die Zuordnung des einzelnen Baumes nicht immer gelingen kann. Neben der genetischen Fixierung des unterschiedlichen Wachstumsverhaltens zwischen aufrecht und niederliegend beeinflussen auch die Ausseneinflüsse wie Schneedruck und Schäden aller Art die Wuchsform der einzelnen Pflanze (Abbildung 4). Auch Hybriden zwischen der Bergföhre und der Waldföhre wurden im Nationalpark nachgewiesen. Kommen im Nationalpark beide Formen der Bergföhre vorwiegend auf trockenem bis sehr trockenem, basischem Boden vor, so wächst die Bergföhre andernorts auch auf einem anderen Extremstandort, nämlich auf sehr saurem Hochmoor (Torfmoos-Bergföhrenwald). Kurz, die Bergföhre ist ein Extremist in Sachen Anspruchslosigkeit und wächst, wo andere Gehölze nicht wachsen oder zumindest nicht erfolgreich konkurrenzieren können.
Abb. 4: Wuchsformen der Bergföhre bei unterschiedlichen Ausseneinflüssen: Links die Legföhre, rechts die aufrechte Bergföhre.(Grafik: SNP/Richard Keller)
Echt wild?
Wie sind nun diese Bergföhrenwälder entstanden? Alle Nadelwälder im Nationalpark haben sich natürlich verjüngt. Das heisst, dass alle heute vorhandenen Bergföhren, Lärchen und Fichten aus Samen gewachsen sind, die vom Wind von an Baumzweigen hängenden Zapfen (vgl. Abb. 5) hergebracht wurden. Die grossen Samen der Arve erntete hingegen der Tannenhäher aus Arvenzapfen und versteckte sie in der Vegetationsschicht. Die ältesten Bäume keimten vor bis zu 1000 Jahren. Am Ende der Eiszeit vor ca. 15 000 Jahren war das ganze Gebiet des Nationalparks mit Ausnahme der höchsten Gipfel von Gletscherbewegungen geprägt (U-Täler) und vegetationsfrei. Wärmere und kältere Phasen wechselten sich ab. Sobald die Gletscher abschmolzen, wanderten gleichzeitig zunehmend Pflanzen- und Tierarten ins Gebiet ein, die einen Arten schneller, die anderen auch erst Tausende von Jahren später. Die Legföhre ist von Osten, die aufrechte Bergföhre von Westen her eingewandert. Hier im Nationalpark überlappen sich die Verbreitungsgebiete der beiden Unterarten. Seit etwa 10 000 Jahren sind die tieferen Lagen des Gebiets weitgehend von Wald bedeckt, ausser entlang der Bäche, in Lawinenzügen und auf barem Fels.
Verwitterung des Gesteins, Niederschläge, Erosion durch Wasser und Bäche, Erdrutsche, Steinschlag, Rüfen, Lawinen und Überschwemmungen beanspruchten die Erdoberfläche und führten über die Jahrtausende zur heutigen Form der stärker eingeschnittenen Täler und Berge. Die Bodenbildung und die Vegetationsentwicklung ringen seit der Eiszeit mit den Einflüssen der Schwerkraft. Sie kann in letzter Konsequenz durch die Vegetation nicht aufgehalten werden. So kam es auf praktisch jeder Waldfläche des Nationalparks in Abständen von einigen, Hunderten oder Tausenden von Jahren zu diesen erwähnten Naturereignissen sowie zu vorwiegend natürlichen Waldbränden. Damit erfolgt immer wieder ein vollständiger Rückfall «auf Feld 1» oder auf ein früheres Stadium der Sukzession, der Entwicklung der Vegetation und der Erdschicht. Das Vorkommen oder das Fehlen der Bergföhren an einer bestimmten Stelle im Nationalpark wird stets durch diese Prozesse bestimmt. Dieses Wechselspiel, aber auch unumkehrbare Entwicklungen wie der allmähliche Abtrag des Gebirges, werden in Zukunft weiter gehen. 15 000 Jahre seit der Eiszeit sind in erdgeschichtlichen Dimensionen erst eine kurze Zeitspanne.
Zweig mit Zapfen der Bergföhre und Alpenmeise Parus montanus. (Foto: SNP)
Prozessschutz
Ein zentraler Wert und Grundsatz im Management des Schweizerischen Nationalparks ist heute der strenge Prozessschutz. Er bedeutet das Nicht-Eingreifen oder das strikte Zulassen der oben beschriebenen, natürlichen und dynamischen Prozesse. Er führt fortlaufend zu neuen, nicht genau vorhersehbaren Zuständen des Ökosystems. Der Prozessschutz steht im Gegensatz zur Erhaltung bestimmter aktueller bzw. zur Einleitung von wünschenswerten Zuständen (z.B. Wasserabfluss, Artenzusammensetzung, Vegetationsstruktur u. a.). Dank ihm werden die kommenden Generationen noch genaueres über die natürlichen Entwicklungsprozesse lernen können.
Menschlicher Einfluss
Menschen traten im Gebiet vor gut 10 000 Jahren erstmals auf. Sie schlugen im Einzugsgebiet des Inns erst seit 3000 bis 4000 Jahren in verschiedenen Epochen spürbar Holz. Seit dem Mittelalter begannen diese menschlichen Einflüsse das Gebiet des Nationalparks in seinem oberflächlichen Erscheinungsbild zu prägen, sei es für die Schaffung von Weidefläche, für die lokalen Bedürfnisse des Bergbaus (Val Trupchun, La Drossa, Il Fuorn, Stabelchod, Buffalora, Val Mingèr), der Holzkohleproduktion und der Kalkbrennerei. Hinzu kamen grossflächige Kahlschläge für die Versorgung der Saline in Hall bei Innsbruck mit Bau- und Brennmaterial. Die Holzstämme wurden dafür auf dem Spöl und auf dem Inn geflösst. Die verschiedenen kulturellen Einflüsse gesellten sich zu den erwähnten Naturereignissen, waren aber aus Sicht der Sukzession meist weniger tiefgreifend, da die Bodenauflage weitgehend erhalten blieb. Das heutige Vorkommen der Bergföhre ist somit durch die Summe der kargen Standortbedingungen, der Sukzession sowie der natürlichen und menschlichen Störungen des Standortes zu erklären.
Die Zukunft der Bergföhrenwälder
Modellartig geht man davon aus, dass sich aufrechter Bergföhrenwald, der über Hunderte oder Tausende von Jahren von Rückschlägen der Sukzession verschont bleibt, aus initialem Pionierwald in einen gemischten Bestand von Bergföhren mit Arve und Lärche entwickelt. Als Endstadium entsteht daraus nach über 1000 Jahren ein Lärchen-Arven-Wald, in welchem die Bergföhre weitgehend verdrängt wird. Die Vorstellungen gehen auch so weit, dass die mittelalterlichen und neuzeitlichen Kahlschläge die bereits gemischten Wälder auf ein früheres Entwicklungsstadium mit nur Bergföhren zurückwarfen. Diese Tendenz lässt sich an heutigen Waldbildern und an den durch die Wissenschaft überblickbaren Waldentwicklungen bestätigen. Vielen Besuchern des Nationalparks sind reine Bergföhrenbestände entlang der Ofenpassstrasse bekannt, die vorwiegend aus gleichaltrigen Bäumen bestehen. Sie gelangen bereits 150 bis 200 Jahre nach ihrer Entstehung altersbedingt in die Zerfallsphase (viel früher als zum Beispiel die Fichte nach 400 bis 600 Jahren). Bäume sterben ab und fallen teilweise um. In den entstehenden Lücken entwickeln sich junge Bergföhren, aber immer häufiger auch einzelne Arven.
Ausgedehnter Lärchen-Arvenwald findet sich im Ofenpassgebiet heute fast nur an den unteren Hängen des Munt La Schera. Hier besteht der Untergrund aus sauren Sandsteinen und die Bodenbildung ist offenbar über sehr lange Zeiträume ungestört bereits bis zur sauren Braunerde vorangekommen. In der Val Trupchun hingegen ist am oberen Waldrand der Lärchen-Arvenwald der Normalfall, weil hier der Untergrund aus Kalkschiefern und nicht aus basischem Dolomitgestein besteht. Die Erwärmung des Klimas liess die obere Waldgrenze in den letzten Jahrzehnten bereits ansteigen, sowohl im Bergföhren- wie auch im Lärchen-Arvenwald. Wie sich die weitere Klimaerwärmung auswirken wird, ist noch wenig absehbar. Es kann vermutet werden, dass sich die ökologisch elastischen Bergföhren besser als anspruchsvollere Arten mit den Veränderungen arrangieren werden.
Es ist nicht anzunehmen, dass die Entwicklung vom Bergföhren-Initialwald zum Lärchen-Arven-Schlusswald in für den Menschen überschaubaren Zeiträumen allgemein gelingen wird. Voraussetzung wäre unter anderem die Ausbildung eines reifen, sauren Bodens über Hunderte bis Tausende von Jahren. Die Trockenheit und die verschiedenen zum Teil heftigen Naturereignisse werden, wie weiter oben aufgeführt, diese Entwicklung in den meisten Fällen jedoch stark verzögern, ja immer wieder da oder dort vollständig rückgängig machen. Die für den Schweizerischen Nationalpark typischen Bergföhrenwälder dürften deshalb auch beim hier herrschenden Prozessschutz nicht verschwinden.
Die Bergföhre (Pinus mugo Turra) verfügt über eine grau-braune Rinde und zwei Nadeln pro Nadelbüschel, im Gegensatz zur fünfnadeligen Arve. Sie kommt in zwei Unterarten vor (Infoflora):
Legföhre oder Latsche, romanisch zuonder, wissenschaftlich Pinus mugo Turra subsp. mugo. Meist niederliegender, strauchartiger Baum, bis 5 m hoch. Die Schuppenschilder der Zapfen sind ziemlich flach, nicht hakig.
Aufrechte Bergföhre oder Hakenkiefer oder Spirke, romanisch agnieu oder tieu da muntogna, wissenschaftlich Pinus mugo subsp. uncinata (DC.) Domin. Meist aufrechter, bis 25 m hoher Baum. Die Schuppenschilder der Zapfen sind aufgewölbt, hakig gekrümmt oder abgerundet.
Duri Bezzola ist dipl. Forstingenieur ETH, Präsident Pro Lej da Segl sowie Natur- und Kulturvermittler.
Quellen
Campell, Eduard, 1964: Die Waldungen des schweizerischen Nationalparks
Haller, Heinrich et al. (Hrsg.), 2013: Atlas des schweizerischen Nationalparks
Infoflora: www.infoflora.ch, 29.11.2022
LFI: www.lfi.ch, 29.11.2022
Ott, Ernst, 1997: Gebirgsnadelwälder
SNP: www.nationalpark.ch, 29.11.2022